Dr. Thomas Macho (Univ.-Prof. i.R.)
Direktor des IFK
Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften |
Kunstuniversität Linz in Wien
Email: office@thomasmacho.de

 Glossolalie in der Theologie



Wenn Sie auf diesen Text verweisen möchten:
in: Friedrich Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin (Akademie-Verlag) 2002, 3-17

von Thomas Macho

Vortrag am Einstein-Forum, 21. Februar 1999 Der Titel meines heutigen Vortrags klingt zweideutig. Doch will ich weder einen Einführungskurs in ekstatisches Sprechen veranstalten, noch die Theologie pauschal der Glossolalie der inspirierten Unverständlichkeit ihrer Diskurse verdächtigen. Weder will ich zu einer metaphysisch legitimierten »Urschreitherapie« einladen, noch zu einem Rundgang durch die Kuriositätenkabinette moderner Esoterik. Was mich beschäftigen wird, ist nicht die mutmaßliche Irrationalität spezifischer Gebetstechniken und Kultpraktiken, sondern vielmehr die Rationalität eines seit dem 18. Jahrhundert bezeugten analytischen Interesses an eben diesen Praktiken. Meine Leitfrage lautet daher schlicht: Was macht die Glossolalie interessant für die neuzeitliche Theologie, und in deren Nachfolge: für Religionswissenschaft, Psychologie oder Kulturanthropologie? Dieser Frage will ich in insgesamt fünf Kapiteln nachgehen, die sich wie folgt überschreiben lassen: Vorspann mit Paulus, Sprechen wie im Paradies, Simultan-Übersetzungen aus Jerusalem, Psychopathologie der Zwangsrede und Privatsprachenästhetik.

1. Vorspann mit Paulus

Wer sich über Theorie und Praxis des Zungenredens informieren will, stößt nur gelegentlich auf Hinweise zur jüdischen Prophetie oder zum Orakel der delphischen Pythia und der Sybille von Cumae (wie sie Vergil in seiner Aenëis beschrieben hat); gewöhnlich findet er jedoch zahlreiche Kommentare zu einigen wenigen Belegstellen des Neuen Testaments: insbesondere zur paulinischen Lehre von den Charismen im ersten Brief an die Korinther (die das wohlbekannte »Hohelied der Liebe« einrahmen), und zur Erzählung vom pfingstlichen Sprachenwunder in der Apostelgeschichte. Just diese häufigen Zitate derselben Belegstellen dokumentieren indes eine gewisse Ambivalenz der Theologie gegenüber dem Auftreten der Glossolalie: sie thematisieren die Zungenrede als ein Phänomen, das zu vorsichtiger Beurteilung einlädt.

Im ersten Korintherbrief wird die Glossolalie das glóssais lalein als eine verbreitete Kultpraxis vorausgesetzt, von der Paulus zwar sagt, er sei stolz, daß er selbst »mehr als ihr alle in Zungen rede« (1. Kor 14,18), allerdings bloß um hinzuzufügen: »Doch vor der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit Verstand reden, um auch andere zu unterweisen, als zehntausend Worte in Zungen stammeln« (1. Kor 14,19). Die Zungenrede ist offenkundig unverständlich; darum bedarf sie der Auslegung und Interpretation (wie übrigens auch das pythische oder sybillinische Orakel); der Apostel betont, wer »in Zungen redet«, solle »darum beten, daß er es auch auslegen kann. Denn wenn ich nur in Zungen bete, betet zwar mein Geist (pneuma), aber mein Verstand bleibt unfruchtbar« (1. Kor 14,13-14). Wer Zungenreden hört, könnte sie leicht mit einer Fremdsprache verwechseln: »Wenn ich nun den Sinn der Laute nicht kenne, bin ich für den Sprecher ein Fremder, wie der Fremde für mich« (1. Kor 14,11); und Außenstehende oder Gäste könnten allzuleicht verwirrt werden: »Wenn also die ganze Gemeinde sich versammelt und alle in Zungen reden, und es kommen Unkundige oder Ungläubige hinzu, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid verrückt«? (1. Kor 14,23) Die Zungenrede steht im Verdacht des regressiven, des infantilen Gestammels: »Seid doch nicht Kinder an Einsicht, Brüder! Seid Unmündige an Bosheit, an Einsicht aber seid reife Menschen!« (1. Kor 14,20) Es kommt darauf an, das kindliche Reden zu überwinden. Nicht umsonst versichert Paulus: »Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war« (1. Kor 13,11). Kindlich, ja kindisch, erscheint die Zungenrede; und die paulinische Haltung zur Glossolalie bleibt, vorsichtig gesagt, von tiefer Skepsis geprägt. (Gewiß würde es einen längeren Kommentar benötigen und verdienen, den Zusammenhang zwischen der Polemik gegen die Zungenrede und dem »Hohelied der Liebe« darzustellen; auch das vielzitierte Verbot der weiblichen Rede in der Gemeinde 1. Kor 14,34 gewinnt im engen Kontext der Argumentation gegen die Glossolalie eine veränderte Bedeutung.)

Während Paulus die Zungenrede in seiner Epistel an die Korinther ablehnt (oder zumindest eindringlich relativiert), scheint sie nach ubiquitärer Lesart im Bericht vom Pfingstwunder geradezu affirmiert zu werden. War es nicht der heilige Geist, der die Jünger (in Gestalt von Feuerzungen) so erfüllte, daß sie mit »fremden Zungen« zu predigen begannen? Und hörte nicht jeder Mensch in der versammelten Menge »sie in seiner Sprache reden« (Apg. 2,6)? Und kam es da nicht zu Entsetzen und Verwunderung, und zur verblüfften Frage: »Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden« (Apg. 2,7-11). Das Pfingstwunder wird als die grandiose Zurücknahme der babylonischen Sprachenverwirrung inszeniert; dieser Eindruck wird lediglich durch einen kleinen Zusatz getrübt, der die eben zitierte Passage von der Simultan-Dolmetsch-Anlage des heiligen Geistes in einem anderen Licht erscheinen läßt. »Andere aber spotteten«, so heißt es: »Sie sind vom süßen Wein betrunken« (Apg. 2,13). Offenbar war es keine Minderheit, die von den Reden in fremden Zungen nicht erreicht werden konnte, denn sogleich trat Petrus auf, gemeinsam mit den elf Aposteln, »und begann zu reden: Ihr Juden und alle Bewohner von Jerusalem! Dies sollt ihr wissen, achtet auf meine Worte! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint; es ist ja erst die dritte Stunde am Morgen« (Apg. 2,14-15). Das Argument ist verräterisch; es besagt nämlich, daß es zu späterer Stunde durchaus verständlich gewesen wäre, das Reden in »fremden Zungen« mit dem Gestammel berauschter Menschen zu verwechseln.

2. Sprechen wie im Paradies

Exakt mit diesem Einwand gegen die Wahrnehmung des Pfingstwunders als Übersetzungsmirakel operierte bereits Johann Gottfried Herder, als er sich 1794 um eine Interpretation der Zungenrede und zwar sowohl der zitierten Passagen aus der Apostelgeschichte als auch der Abschnitte aus dem ersten Korintherbrief bemühte. »Wenns also später am Tage wäre, wie? So könnte man voll süßen Weins ungelernte Sprachen reden? Das kann Petrus so wenig als Lucas sagen wollen: denn auch zu den Spottenden spricht jener offenbar als zu vernünftigen, einer Überzeugung fähigen Menschen.« Zusätzlich argumentiert Herder, die Verwunderung und das Entsetzen der versammelten Menschenmenge zu Pfingsten sei kaum erklärbar, wenn jeder bloß in seiner Muttersprache angesprochen worden wäre; obendrein würden in den Versen 9-11 gar keine Sprachen aufgezählt, sondern lediglich Provinzen eine Landkarte der Orte und Gebiete, in denen Juden wohnten (die sich im übrigen, sei es auf Griechisch, Chaldäisch oder Hebräisch, durchaus zu verständigen gewußt hätten). Herder resümiert, das Pfingstwunder berichte von derselben Praxis wie der Korintherbrief; diese Praxis habe jedoch mit der Beherrschung von Fremdsprachen nichts zu tun. »Die Menge kommt zusammen und wird verwirrt; sie entsetzen sich, werden irre; Einer spricht zum andern: Was will das werden? Nur da Petrus in der gewöhnlichen, ihnen allen verständlichen Sprache spricht und ihnen die Begebenheit erkläret, nur da geht's ihnen ans Herz.«

Herders Abhandlung reagierte auf eine Reihe anderer Autoren; sie wurde nach Auskunft des Verfassers aus »keiner andern Ursache« publiziert, »als weil neuerlichst diese Materie von Mehreren durchdacht und bearbeitet worden«. Tatsächlich wurde 1786 Christoph Gottfried Bardilis Interpretation von 1. Kor XIV in Göttingen gedruckt; zwischen 1777 und 1786 erschien das achtzehnbändige, von Johann Gottfried Eichhorn herausgegebene »Repertorium der biblischen und morgenländischen Literatur«, während zwischen 1756 und 1789 die »Aufrichtige und wahrhafftige Extracta aus dem allgemeinen Diario der wahren Inspirationsgemeinden« (von denen noch die Rede sein wird) in 22 Bänden veröffentlicht wurden. Im Vorwort zu seiner Pfingstschrift behauptet Herder, er habe den Text bereits vor zwanzig Jahren einer anderen Arbeit einverleiben wollen; der Leser darf annehmen, daß die »Abhandlung vom Ursprung der Sprache« (aus dem Jahre 1772) gemeint ist, auf deren Thesen sich der Autor auch im Verlauf seiner Überlegungen zur Zungenrede mehrfach bezieht. Indem er nämlich die Rede von der Zunge (glóssa) engführt mit der Rede vom Geist als Atem und Hauch (pneuma), kann er das Ideal der hebräischen Ursprache auch auf die Glossolalie ausdehnen: sie wird als das begeisterte Gebet legitimiert, als der gleichsam ursprachliche Affekt: »Mit der Zunge sprechen heißt also nach dem Ebräischen Styl nichts anders als im Affect, begeistert, kräftig und herzlich reden.« Naturgemäß gerät Herder bei seinem Versuch, Ursprache und Glossolalie enger zu verknüpfen, in Widerspruch zu Paulus. Der Widerspruch kann lediglich ermäßigt werden, indem (erstens) der Vers unterstrichen wird, in dem Paulus sich selbst der Zungenrede rühmt: »Mithin muß die Gabe an sich nicht verwerflich gewesen seyn, da Paullus für sie Gott danket«, sowie (zweitens) den Korinthern angekreidet wird, daß sie in heidnisch abgeschwächter Form wiederholen, was eigentlich nach Jerusalem (nämlich zum Pfingstfest) gehörte.

Was aber vielleicht die wichtigste Pointe der Parteinahme Herders für die Glossolalie (wie auch für seine jahrzehntelangen Forschungen zur Ursprache) bildet, kommt erst im letzten Abschnitt der zitierten Schrift zum Ausdruck. Herder formuliert hier einerseits das Lob des Protestantismus, indem er die rhetorische Figur des Übergangs vom toten Buchstaben zum Geist auf das Verhältnis zwischen römischem und reformiertem Christentum projiziert; andererseits jedoch läßt er die neue (pietistische) Glossolalie (etwa der Inspirationsgemeinden um Johann Friedrich Rock) aus Philologie und Buchdruck hervorgehen. Denn wodurch wurden wir, so Herder, von »roher Gewalt, Finsternis und Barbarei« des Katholizismus befreit? »Abermals durch den Geist, und zwar zuerst durch den Geist der Sprachen. Nicht in Begeisterung, nicht in mystischen Zungen kam er hernieder; mehrere Schriften, Schriften des Alterthums wurden entdeckt; mehrere Völker, Parther und Elamiter, Creter und Araber lernte man kennen; man verglich ihren Genius, den Geist verschiedener Zeiten und Himmelsstriche; man lernte und übte Sprachen. Dadurch kehrte man nun allmählich zum reinen, ursprünglichen Sinne auch der heiligen Schriften zurück; man hörte in allen Zungen die großen Thaten Gottes preisen. Die Buchdruckerei wurde erfunden, und wie Boten des Geistes flogen jetzt Schriften, Zurechtweisungen, Belehrungen, Erweckungen unter die Völker. Es wäre undankbar, die Wohlthat Gottes nicht zu erkennen, die uns zur geraden, klaren Ansicht der Dinge mehrere Hülfsmittel verschafft hat«.

Die These lautet also: erst die »Befreiung des Geistes« durch Sprachgeschichte und gedruckte Bücher ermöglicht den modernen (protestantisch-pietistischen) Typus der Inspiration; erst eine neue Qualität der Schrift nämlich durch wissenschaftliche Historisierung wie durch den Buchdruck gestatte es, die Ursprünglichkeit der Stimme (von der Herder sich so fasziniert zeigt) poetologisch neu zu konzipieren. In der Abhandlung vom »Geist der ebräischen Poesie« wird nicht nur die Verwandtschaft zwischen Propheten und Dichtern behauptet, sondern eben auch ein Verhältnis zwischen der Schrift und dem »Athem der Seele«, das bereits die hebräische Ursprache ausgezeichnet habe; darin folgt Herder (wie Maurice Olender gezeigt hat) den Einsichten Spinozas und des Oratorianerpaters Richard Simon über den Sinn der Vokalisierung der hebräischen Texte, die in der Rezitation stets erneut vitalisiert (nämlich mit pneuma erfüllt) werden müssen. »Stumm wie es ist, präsentiert sich das hebräische Wort als undurchsichtiger Körper mit verborgener Bedeutung. Diese kann nur im Schall der Stimme zutage kommen. Um den Text zu lesen, muß man ihn singen, ihm jenen Hauch leihen, der ihn belebt und den Jahrhunderte des Vokalisierens beglaubigt haben.« Die Stimme gibt gleichsam dem Text seine ursprachlichen Qualitäten zurück: sie macht ihn überspitzt gesagt zur Zungenrede (wie in den Inspirationsgemeinden); nicht umsonst wird darum die Glossolalie genauso mit der Sprache der Kinder verglichen wie die hebräische Ursprache, die Herder mehrfach mit einem menschheitsgeschichtlichen Kindheitsstadium assoziiert.

3. Simultan-Übersetzungen aus Jerusalem

Während Herder den Sinn der Zungenrede sowohl hinsichtlich ihrer Gestalt als »kräftiges und herzliches Gebet«, als auch hinsichtlich ihrer sprach- und mediengeschichtlichen Implikationen zu denken und legitimieren trachtete (teilweise im Widerspruch zu Paulus, den er als »gütig«, aber auch »naiv« charakterisiert), betonten Johann Gottfried Eichhorn und nach ihm F. Bleek, Ferdinand Christian Baur, Johann Wilhelm August Neander und David Schulz den ekstatischen Charakter der Glossolalie, und kritisierten folgerichtig alle Versuche, das Pfingstereignis mit spezifischen Übersetzungsleistungen in Zusammenhang zu bringen. Dagegen setzten wiederum H. Olshausen (gegen Bleek) und Bäumlein (gegen Baur und Neander) auf eine apologetische Interpretation des zweiten Kapitels der Apostelgeschichte: das Reden in fremden Sprachen und alten Dialekten sollte mit poetologischen Analogien plausibel gemacht werden. Denn, ich zitiere aus Adolf Hilgenfelds Studie über »Die Glossolalie in der alten Kirche« von 1850, »die religiöse Begeisterung, welche sich hier noch im Gefühl concentrire, suche sich eine neue Sprache zu erschaffen; als Ausdruck für die neuen, mächtigen Empfindungen, welche die Seele bewegen und erheben, biete sich mehr eine fremde, nicht gemein gebräuchliche Sprache dar, in ähnlicher Weise, nur in höherem Grade, wie der Dichter die gewöhnliche Sprache verschmäht.« Gegen diese Konstruktion wurde von Baur (in einer zweiten Abhandlung) eingewendet, sie überschätze die Möglichkeiten der glóssa, sei es der physischen oder der geistigen Zunge sich in neuen oder fremden Sprachen zu artikulieren. Baur hielt fest: »Für das Neue und Außerordentliche, welches das Gemüth erfüllte und bewegte, sollte, da das gewöhnliche Mittel der Mitteilung zu mangelhaft und unzureichend erschien, ein neues Organ, eine neue Sprache geschaffen werden; der Versuch hierzu waren alle jene eigenthümlichen und auffallenden Aeußerungen, in welchen die glóssais lalounies sich vernehmen ließen; aber dieser Versuch mußte der Natur der Sache nach ein sehr unvollkommenes Stückwerk sein, und konnte daher im besten Falle in nichts Anderem bestehen, als in einzelnen abgerissenen Wörtern und Redensarten, die entweder aus einem antiquirten Sprachgebrauch oder aus anderen Sprachen genommen waren.«

Freilich verdankte sich die theologisch differenzierte Auseinandersetzung um die richtige Auslegung der Pfingsterzählung nicht allein dem Bemühen um wissenschaftlich haltbare Exegese, als vielmehr einer noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unvermindert aktuellen Wahrnehmungslage. Ich habe ja bereits darauf hingewiesen, daß das Interesse an der Glossolalie genährt wurde einerseits von der Diskussion um die Ursprache, die wahlweise mit dem Hebräischen (als der Sprache Gottes) oder mit dem Sanskrit identifiziert wurde; aber diese Ursprache, Kindheitsdialekt der Menschheit, konnte andererseits auch aktuell perzipiert werden. Denn gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts entstand unter den Camisards in Südfrankreich, die nach dem Widerruf des Edikts von Nantes (1685) mit großer Härte verfolgt wurden, eine pneumatische Erweckungsbewegung, die rasch geradezu epidemische Ausmaße erreichte. Die Bewegung verlagerte sich auch nach Deutschland, wo sie von den Inspirationsgemeinden um den gelernten Sattler (und Pfarrerssohn) Johann Friedrich Rock in der Wetterau bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (und danach bis um 1850) fortgeführt wurde. Die Glossolalie wurde übrigens wenngleich in geringerem Umfang auch unter den Jansenisten praktiziert, unter Quäkern und Mormonen; in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie von den Anhängern des Pastors Edward Irving in Großbritannien verbreitet. Irving (der den heute vergessenen Irvingismus begründete) war davon überzeugt, daß die Endzeit angebrochen sei, was sich insbesondere in der neuerlichen Erscheinung der Charismata des Urchristentums manifestiere. In seiner geschichtlichen Untersuchung des Zungenredens bemerkt Eddison Mosiman: »Die ekstatischen Äußerungen kamen hier zum erstenmal vor im Oktober 1831. Zuerst waren sie nur nach der Predigt erlaubt, aber es währte nicht lang, bis sie den ganzen Gottesdienst beherrschten, und es ging oft sehr tumultuarisch her.«

Den Mitgliedern dieser ekstatischen Bewegungen wurde nun häufig nachgesagt, daß sie nicht einfach nur »unartikulierte Laute« ausgestoßen, sondern in fremden Sprachen geredet hätten. Von den Camisards hieß es, sie hätten während ihrer glossolalischen Begeisterung in korrektem Französisch gesprochen. »Im gewöhnlichen Zustande konnten sie nicht in reinem Französisch reden; es wäre ihnen eben so schwer gewesen, wie es für einen ungebildeten Plattdeutschen schwer ist, Hochdeutsch zu sprechen.« Von einer Kinderprophetin der Camisards hieß es: »Sie singt und spricht in einer Sprache, die man nicht versteht.« Und in den Cevennenkriegen, die Ludwig XIV. gegen die Camisards führte, seien die Begeisterten den Truppen mit dem (möglicherweise funktionalen) Ruf vorangeschritten: Tartara, tartara. Sir Buckley, einer der englischen Anhänger der Bewegung, behauptete, er hätte einige Zungenredner Lateinisch und Hebräisch sprechen hören, was ihnen nur in der Ekstase möglich gewesen sei. Von den Wetterauer Inspirationsgemeinden vermerkte dagegen ihr kritischer Historiker M. Goebel: »Fremde Sprachen kamen nur im Anfange und nur sehr vereinzelt vor: so hatte Pott noch in Halle eine mit Hebräischem vermischte Aussprache; Gleim [Johann K. Gleim: Das Geschrey zur Mitternacht, durch den Geist der Weissagung gewürcket und verkuendiget und jetzo als ein Zeugnuss der wahren Inspiration dargelegt, 1715] begann seine Aussprachen, nach vierzehnwöchentlicher stummer Zubereitung, mit etwa fünfzig für jedermann völlig unverständlichen ungeheuer langen Wörtern: Schetakoro olahamanu, olaschemenetehora, tischama .... olische bonoto alla Jesus alla!«

Einen hebräischen Tonfall schienen auch die Zungenredner des Pastors Irving zu imitieren: nach dem Bericht eines Augen- und Ohrenzeugen wurde Irving bei seiner Predigt plötzlich unterbrochen »durch einige ganz fremdartige und an sich unverständliche Laute, die aber mit einer Gewalt der Stimme und einer Schärfe der Betonung ausgestoßen wurden, daß mir alle Haare dabei zu Berge standen und Schauder und Entsetzen mich ergriffen. So hatte mein Leben lang noch nichts mein Nervensystem, das doch nicht schwach ist, erschüttert, und ich glaube auch nicht, daß es mir möglich wäre, trotz aller Anstrengungen einer von Natur durchaus gesunden Kehle so gellende und schneidende Töne hervorzubringen. .... Vor dem Ausbruch der Rede nahm man an der betreffenden Person ein in sich Gekehrt- und gänzliches Versunkensein wahr. .... Auf einmal dann, gleich als von elektrischem Schlage getroffen, verfiel dieselbe in eine krampfhafte Zuckung, wobei der ganze Körper erschüttert wurde; darauf strömte ein feuriger Erguß von fremden, in meinen Ohren am meisten der hebräischen Sprache ähnlichen, nachdrucksvollen Lauten aus dem zuckenden Munde, welche gewöhnlich dreimal wiederholt und .... mit unglaublicher Heftigkeit und Schärfe ausgestoßen wurden.« Mary Campbell, eine besonders begabte Expertin der Glossolalie in der irvingistischen Bewegung, hielt ihre Zungenreden selbst wahlweise für die Sprache der Pelew-Inseln, für Türkisch oder Chinesisch; aufmerksame Hörer vermeinten, französische oder lateinische Wortbrocken wahrzunehmen. Ein anderer Beobachter notierte: »Meine Frau, die bei mir war, behauptete, einige wären Italienisch und Spanisch gewesen: das erstere ist sie imstande zu sprechen und zu übersetzen, das zweite kennt sie wenig. In diesem Falle konnte sie die Worte nicht dolmetschen noch im Sinne behalten, als sie gesprochen worden.« Die Zeitungen von 1831 charakterisierten freilich die »Zungen« Mary Campbells und der Irvingianer ungerührt als »unverständliches Geschnatter« und als »die Schreie und Seufzer von Verrückten«.

Was ich an diesen Berichten, die sich mühelos durch zahlreiche weitere Beispiele (insbesondere aus der Pfingstbewegung, von der noch die Rede sein wird) ergänzen ließen, demonstrieren will, ist eine simple soweit ich sehen kann: unbemerkte und nicht kommentierte Verschiebung. Während es zu Pfingsten im Falle der Interpretation der apostolischen Glossolalie als Fremdsprachenkompetenz um ein »Hörwunder« gegangen sein muß: jeder hörte die Apostel in seiner eigenen Muttersprache predigen, wird jetzt von polyglotten Ekstatikern erzählt, die ihrerseits gedolmetscht werden müssen (und zwar sogar darum, weil sie plötzlich die Hochsprache verwenden). Während die Pfingsterzählung gleichsam eine passive Fähigkeit als Resultat des Sprachenwunders postuliert, wird von den modernen Pneumatikern eine aktive Mehrsprachigkeit erwartet: sie rekapitulieren gleichsam den Stammbaum der Sprachgeschichte, weshalb sie natürlich mit einem hebräisch-ursprachlichen »Sound« in Trance fallen müssen. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht übrigens die Hochsprachenkompetenz der Camisards-Propheten: schließlich hat gerade in Frankreich die Zentralisierung und nationalsprachliche Disziplinierung nicht erst mit der Revolution und den napoleonischen Reformen, sondern bereits im Ancien Régime (wie Tocqueville überzeugend nachweisen konnte) begonnen. Ich halte fest: Das Wunder von Jerusalem bestand darin, daß sich Juden aus der ganzen Welt in einer Sprache verständigen konnten; die Sprachenwunder der Neuzeit bestehen offenkundig darin, daß auch die Angehörigen der Provinz die nationalen Hochsprachen zu erlernen vermögen und die Angehörigen der Kolonien die Sprachen ihrer Herren. Nicht umsonst führte die Ausbreitung der Pfingstbewegung nach Indien vor allem dazu, daß die Inder Englisch lernten. So wird von einer getauften Inderin mitgeteilt: »Ihre Muttersprache ist Marathi und sie konnte ein wenig Hindostanisch reden. Aber sie war völlig unfähig, solches Englisch, wie sie es jetzt anwendete, zu sprechen oder zu verstehen. Und als ich sie hörte, idiomatisch, deutlich und fließend Englisch reden, war ich sehr ergriffen, wie ich gewesen wäre, hätte ich jemand, den ich kannte, vom Tode auferstanden gesehen.«

4. Zur Psychopathologie der Zwangsrede

Während Eichhorn, Herder, Baur, Neander, Olshausen, Bäumlein oder Schulz noch im Rahmen ihrer jeweiligen theologischen Ansichten für oder gegen die Glossolalie, für oder gegen deren Interpretation als Sprache respektive als ekstatisches Gestammel, stritten, versuchte Adolf Hilgenfeld mit seiner schon zitierten Untersuchung über »Die Glossolalie in der alten Kirche« (Leipzig 1850) neuen Boden zu gewinnen. Schon die ersten Sätze charakterisieren den veränderten Anspruch: »Die Glossolalie ist deshalb eine für den kritischen Geschichtsforscher so anziehende Erscheinung, weil in ihr jedenfalls das Außerordentliche und Eigenthümliche der urchristlichen Begeisterung besonders hervortritt.« Die historische Exegese ist kritisch; sie muß keinen Glaubenssinn mehr retten, und folglich vergleicht Hilgenfeld die Glossolalie mit der antiken Orakelpraxis, thematisiert gnostizistische und montanistische Einflüsse, entwirft eine Übersicht der bis dato vertretenen Standpunkte und Positionen, um zu guter Letzt zum Schluß zu gelangen, ein theologischer Prinzipienstreit sei nicht entscheidbar und im übrigen auch insofern überflüssig, als Paulus den höheren Charismen des Glaubens, der Liebe und Hoffnung den Vorzug gegenüber der Zungenrede eingeräumt habe. Mit Hilgenfelds Untersuchung endet die theologische Konfrontation von Ursprachenargumenten und Übersetzungsmodellen: zugunsten der Historisierung, und zugunsten der Psychologie. Bereits zwei Jahre vor Hilgenfelds Text erschien der »Versuch einer Theorie des religiösen Wahnsinns« von K. W. Ideler, der beispielsweise die Zungenreden der Camisards als »wahnwitzige Schwärmerei« qualifiziert; und ein halbes Jahrhundert später wird in einer wohlgemerkt: theologischen Abhandlung über die Glossolalie nüchtern konstatiert: »Die Grösse dieses Affekts ist so bedeutend, dass die Sprachorgane ganz unabhängig von dem Willen des Subjekts in starke Bewegung versetzt werden. Dabei kommen unartikulierte Einzellaute, sinnlose Lautverbindungen, aber auch richtige Wörter und Wortverbindungen zustande. Diese Wörter oder Sätzchen sind aus dem Bewusstsein des menschlichen Subjekts entnommen. Manchmal stammen sie freilich aus dem unterdrückten Bewusstsein. Denn wenn in Korinth den Zungenrednern die Worte »Ein Fluch (ist) Jesus!« (1. Kor 12,3) entfliegen, dann ist das auf eine Linie zu stellen mit dem plötzlichen Hervorbrechen geschlechtlich-sinnlicher Bilder in den Visionen solcher Personen, die sich bei wachem Bewusstsein durch eine gewaltsame Unterdrückung ihrer sinnlichen Triebe auszeichnen. In der Ekstase wie im Traume treibt bisweilen aus den dunklen Tiefen der Nachtseiten des Bewusstseins Geheimstes mit Gewalt zum Licht empor. Und nicht nur Mönche, sondern auch neuere Visionäre haben dann solche Erfahrungen mit Entsetzen dämonischen Mächten zugeschrieben, weil sie so Furchtbares als Bestandteile ihres eigenen Seelenlebens nicht anzuerkennen vermochten.« (Heinrich Weinel: Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nachapostolischen Zeitalter bis auf Irenäus. Freiburg/Brsg./Leipzig/Tübingen 1899) Nach der Jahrhundertwende begann sich die Kategorie der »automatischen Zwangsrede« durchzusetzen; und Emile Lombards zusammenfassende Studie »De la Glossolalie« (Paris 1910) kam ebenso wie Eddison Mosimans bereits zitierte Studie über »Das Zungenreden geschichtlich und psychologisch untersucht« (Leipzig 1911) zum Schluß, es handle sich bei diesen Phänomenen um Effekte der Suggestion, die in Verbindung mit motorischen Automatismen einer allzu lebhaften, womöglich pathologischen religiösen Phantasiewelt entspringen.

Erst dem psychoanalytisch gebildeten Pfarrer Oskar Pfister aus Zürich (der bekanntlich mit Freud über die »Zukunft einer Illusion« korrespondierte) eröffnete sich ein neuer Zugang zur Glossolalie, und zwar durch die Bekanntschaft mit einem Zungenredner namens Simon, den Pfister überredete, sich dem psychoanalytischen Verfahren der freien Assoziation zu unterwerfen. Ich zitiere aus Pfisters Schrift über »Die psychologische Enträtselung der religiösen Glossolalie und der automatischen Kryptographie«, die 1912 im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen veröffentlicht wurde: »Meine Bekanntschaft mit Simon verdanke ich einem an paranoider Katatonie leidenden Ekstatiker, der mir von einem durch einen unsaubern Geist zur Zungenrede getriebenen Jüngling erzählte. Unverzüglich bat ich den signalisierten jungen Mann um Auskunft, ob er bereit sei, mir über seine außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen Aufschluß zu erteilen. Die Antwort lautete entgegenkommend.« Es stellte sich bald heraus, daß der junge Mann seit dem 16. Lebensjahr eine enge Freundschaftsbeziehung mit einem pietistisch orientierten Gemeindepfarrer unterhielt, und bald nach der Konfirmationsfeier von den ersten Automatismen heimgesucht wurde. Ich zitiere neuerlich Pfister: »Am Pfingstfest desselben Jahres, acht Wochen nach der Konfirmation, als er eine Predigt besucht und die Pfingsterzählung der Apostelgeschichte gelesen hatte, betete er inbrünstig. Plötzlich merkte er, daß er nicht in verständlichen Worten, sondern unwillkürlich in einer ihm unbekannten Sprache redete, die er sogleich als die biblische Zungenrede betrachtete und in den nächsten Wochen fleißig übte. In jener Zeit, kurz vor der Pfingstfeier, hatte ihm ein Sektenprediger die bisher arglos geübte Masturbation schroff ausgetrieben und die üble Gewohnheit als Ursache der bereits geschädigten Nerven sowie als Gefahr für die Augen hingestellt.« Pfister protokolliert schließlich eine Reihe von Zungenreden, die er beim Mitschreiben laut nachspricht, und läßt seinen Probanden zu jedem einzelnen Wort assoziieren. Ich gebe ein Beispiel: »Esin gut efflorien meinosgat schinohaz daheit wenesgut när wossalaitsch enogaz to lorden hat wuschenehat menofeite lor; si wophantes menelör gut menofeit hi so met dä lör.«

Pfister kommt nach langwierigen Analysen zum Schluß, daß die Glossolalie dem Traum, dem Witz oder der Dementia praecox ähnlich sei; sie müsse als neurotische Wunscherfüllung im Sinne Freuds begriffen werden. Das sprachliche Material stamme vorwiegend aus der Kindheit; die epidemische Leidenschaft für die Zungenrede lasse sich hingegen auf suggestive Effekte zurückführen. Er schließt mit einer Kurzanalyse des Apostels Paulus: »Hauptsache aber ist, daß die Glossolalie seinem bedrückten Herzen durch ihren neurotischen Funktionswert Luft zu schaffen wußte. Unter den anderen 'Geistesgaben', die 1. Kor 12,8-10 aufgezählt werden, ist die Glossolalie diejenige, welche wegen ihrer Unverständlichkeit die geringste Gelegenheit zur Übertragung einschließt und somit nur autoerotische Befriedigung gewährt. Daß Paulus diesen Mangel erkannte, ist als ein wahres Glück für die christliche Religionsentwicklung zu bezeichnen.« Pfisters Analyse wurde bald überboten, etwa durch Hans Rusts »Das Zungenreden. Eine Studie zur kritischen Religionspsychologie« (München 1924). Hier heißt es dann, viel gröber, als im Text des Züricher Pastors, die »Annahme einer infantilen Bewußtseinsstellung der Zungenredner« passe genau »zu der fast regelmäßig beobachteten Tatsache, daß die Zungenredner ungebildete und einfältige Menschen sind, welche einem etwas primitiven Typus menschlicher Geistigkeit angehören. Wo die Betreffenden jedoch der gebildeten Schicht angehören, haben sie sich eine instinktive Zuneigung zu dem naturnahen Zustande sowie eine auf religiösen Mißverständnissen beruhende Höchstschätzung der Armut am Geiste bewahrt.« Rust definiert die Zungenreden als Zwangshandlungen, die freilich von der Besessenheit unterschieden werden müssen.

5. Privatsprachenästhetik

Hans Rust (der Pfister übrigens vorwirft, noch im Bann der paulinischen Dogmatik zu verweilen) erwähnt als erster Theoretiker des Zungenredens auch Phänomene, die nicht im engeren Sinne zur Theologie, sondern zur Ästhetik gerechnet werden müssen. So schreibt er beispielsweise über die Lautgedichte des Dadaismus: »Eine andere verwandte Erscheinung muß hier noch genannt werden, die seit etlichen Jahren in einigen überkultivierten und kulturmüden Kreisen geübte Mode, welche als Dadaismus bekannt geworden ist. Sie ist weiter nichts als die absichtlich herbeigeführte Loslassung einer latenten infantilen Einstellung, welche sich unter dem Kulturfirnis erhalten hat und mit echter Kindlichkeit verwechselt wird.« (Seite 53) Das barsche Urteil thematisiert einen Zusammenhang, der freilich nicht bloß nach psychologischen Gesichtspunkten reflektiert zu werden braucht. So hat ja schon Herder die Ursprache der Propheten mit der Poesie assoziiert; und am Ursprung der modernen »Pfingstbewegung« stand ein australischer Dichter von evangelischen Liedern namens Alexander. Die bis zum heutigen Tag erfolgreiche (allerdings in ihrer Politik gegenüber der Glossolalie schwankende) »Pfingstbewegung« wurde übrigens begründet von Charles Fox Parham, einem Methodistenprediger (und Mitglied einer der zahlreichen Erweckungsbewegungen nach dem Bürgerkrieg); in den Gottesdiensten der Pfingstgemeinden wurde sogar in Zungen gesungen, und diese ästhetisch gestalteten Zungenlieder erinnern tatsächlich an die Lautpoesie Arps, Huelsenbecks oder Hausmanns. So sang ein Pastor namens Paul Lieder in Zungen, etwa den Choral »Laßt mich gehen«, der in glossolalischer Fassung wie folgt lautete:

»schua ea, schua ea,
o tschi biro ti ra pea
akki lungo ta ri fungo
u li bara to ra tungo
latschi bungo ti tu ta.«


Daß sich (umgekehrt) Hugo Ball im Zuge seiner Konversion zum römischen Katholizismus auch für das byzantinische Christentum und für spätantike Ekstasetechniken zu interessieren anfing, ist bekannt, und muß hier ebensowenig ausführlich kommentiert werden, wie das Interesse der Surrealisten an der écriture automatique, das mit jenem »Zwangsschreiben« in Verbindung gebracht werden mag, das Oskar Pfister (und lange vor ihm natürlich Justinus Kerner) zu analysieren versuchten.

Das Interesse an einer ästhetisch legitimierten Privatsprache (gleichsam einer Zungenrede unter literarischen Perspektiven) wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von zahlreichen Zeitgenossen geteilt, wie Friedrich Kittler in seiner Analyse des »großen Lalula« (im zweiten Teil der »Aufschreibesysteme«) demonstriert. Dort findet sich auch jenes Gedicht Stefan Georges, das in seinen beiden Schlußzeilen eine Geheimsprache zitiert, die der Dichter im Alter von sieben oder neuen Jahren konstruiert haben soll. Das Gedicht trägt passenderweise den Titel »Ursprünge« und schließt mit einem kaum verhohlenen Lob der Glossolalie:

»Auf diesen trümmern hob die Kirche dann ihr haupt.
Die freien nackten leiber hat sie streng gestaupt.
Doch erbte sie die prächte die nur starrend schliefen
Und übergab das maass der höhen und der tiefen
Dem sinn der beim hosiannah über wolken blieb
Und dann zerknirscht sich an den gräberplatten rieb.

Doch an dem flusse im schilfpalaste
Trieb uns der wollust erhabenster schwall:
In einem sange den keiner erfasste
Waren wir heischer und herrscher vom All.
Süss und befeuernd wie Attikas choros
Über die hügel und inseln klang:
CO BESOSO PASOJE PTOROS
CO ES ON HAMA PASOJE BOA.«


Bekannt ist schließlich auch, daß sich der Philosoph Ludwig Wittgenstein nicht nur der Kryptographie widmete (und nahezu ein Drittel seiner Tagebücher, zugleich seiner philosophischen Arbeitstexte) nach Maßgabe eines (allerdings ziemlich simplen) Schlüssels codierte, sondern darüber hinaus die Möglichkeiten einer Privatsprache intensiv reflektierte. Daß er dabei durchaus an die Glossolalie dachte, belegt folgende Bemerkung aus den »Philosophischen Untersuchungen«: »Man könnte sich Menschen denken, die etwas einer Sprache nicht ganz Unähnliches besäßen: Lautgebärden, ohne Wortschatz oder Grammatik. ('Mit Zungen reden'.)« Kurzum, was zunächst als ein originäres Thema der Theologie auch unter dem Druck aktueller glossolalischer Erweckungsbewegungen eingeführt wurde, geriet ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unter die Hegemonie der Geschichtswissenschaft und danach der Psychologie; ab der Jahrhundertwende avancierte die Glossolalie zum beliebten Thema der Literatur und Ästhetik, schließlich der Sprachphilosophie. Erst neuerdings hat sich auch die Kulturanthropologie (von Hans Peter Duerr bis zu Felicitas D. Goodman) dieser Problemstellungen angenommen.

Ich fasse zusammen.

Was ich demonstrieren wollte, ist die Chance (noch nicht das endgültige Resultat) einer kulturgeschichtlichen Recherche zum modernen Interesse an Glossolalie, das sich (in praktischer wie theoretischer Hinsicht) seit dem Ende des 17. Jahrhunderts etabliert hat. Wer die Dokumente dieses Interesses, vor allem jedoch: die konstitutiven Beschreibungen der glossolalischen Erscheinungen, studiert, wird die Hoffnung auf eine Anthropologie der Trancerede (wie sie noch Duerr, Goodman oder Ioan P. Couliano artikulieren) rasch aufgeben. Die Zungenrede ist nicht mehr als ein Spiegel; ihre Wahrnehmung kann als eine Möglichkeit perzipiert werden, kulturelle Optionen, Prozesse und Grenzen zu kommentieren. Gerade in dieser Hinsicht ist die Glossolalie ein ausgezeichnetes Thema der modernen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte.