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Die Bäume des Alphabets, in: Neue Rundschau, 116. Jahrgang / Heft 2, Frankfurt/Main (S. Fischer) 2005, 66-80.


1.

Alphabetische Ordnungen des Wissens, wie sie fast jedes Lexikon und jede Enzyklopädie strukturieren, erschienen noch vor wenigen Jahrzehnten so naheliegend und evident, daß die Frage nach alternativen Systemen der Wissensrepräsentation nur ausnahmsweise – etwa in Foucaults Les mots et les choses von 1966 – aufgeworfen wurde. Erst seit der raschen Expansion offener Computer-Netzwerke – mit ihren neuen Darstellungsstrategien der Hypertexte, Links oder Mind Maps – ist diese Selbstverständlichkeit allmählich geschwunden. Heute werden die Systeme alphabetischer Serienbildung wieder schärfer konkurriert: Listen, Tabellen, Karten oder Diagramme sind längst neben die gewohnte Ordnung nach Alphabetreihen getreten. Zurückgekehrt sind sogar die einst so beliebten Stamm- und Ableitungsbäume, und zwar nicht nur als Visualisierungshilfen, sondern auch als Organisationsprinzipien von Computerprogrammen und Datenbanken.

Der genealogische Baum hat im Laufe der Kulturgeschichte verschiedene Gestalten angenommen. Im Mittelalter wurde er gern als Baum der Ursprünge und Abstammungen – in zahlreichen Varianten – gezeichnet: als geometrisch geordnete Konstruktion, die nur entfernt an einen pflanzlichen Organismus erinnert, oder als chaotische Figur, die einem modernen Soziogramm ähnlich sieht; gelegentlich wurde er als arbor consanguinitatisoder als arbor affinitatis gezeichnet, der den Zusammenhang verschiedener Verwandtschaftsgrade demonstrieren sollte, dann wiederum als dynastisches System zur Begründung von Herrschaftsansprüchen; er wurde in verschiedenen Spielarten als Stammbaum Jesu, als Wurzel Jesse, gemalt, die – unter Berufung auf den Propheten Jesaja1 – vom zumeist ruhenden Vater Davids ausging, um in den Verzweigungen, die weniger an Äste als an Schlingpflanzen denken lassen, die Brust- oder Vollbilder der Vorfahren Christi zu zeigen; und er wurde als philosophischer Deduktionsbaum entworfen: als ontologisches Gewächs, das vom ens oder von der substantia bis zum konkreten homo, heiße er nun Plato oder Paulus, zu führen versprach. Solche Ableitungsbäume ordneten die Welt, indem sie die Gattungen und Arten des Seienden in Äste und Zweige gliederten.

Im Mittelalter erlebte die iberische Halbinsel – unter arabischer Herrschaft – eine intellektuelle Blütezeit, in der die ersten Übersetzerschulen (beispielsweise in Toledo) gegründet und philosophisches, medizinisches oder astronomisch-technisches Wissen quer über die kulturell-religiösen Grenzen zwischen Juden, Christen und Moslems hinweg vermittelt werden konnte. Dieser Blütezeit, die zunächst weder durch die Kreuzzüge noch durch die Reconquista katholischer Adelseliten ernsthaft beeinträchtigt werden konnte, verdankte Europa eine Vielzahl wissensgeschichtlich bedeutender Impulse: Schriften, Techniken und Instrumente, von der indoarabischen Zahlenschrift bis zu den Werken des Aristoteles. Dieses Klima der convivencia begünstigte auch eine bemerkenswerte Reform der traditionellen Abstammungsbäume. Im Austausch der Kulturen wurde es offenkundig wichtiger, ein dynamisches Modell der Kombinatorik zwischen den verschiedenen Sprachen und Traditionen zu entwerfen, als am hierarchischen Schema der Genealogie oder der porphyrischen Bäume festzuhalten. So erarbeitete etwa der katalanische Philosoph Ramon Lull (oder Raimundus Lullus) in seinem Liber de gentili et tribus sapientibus die Kategorien eines Dialogs zwischen den Religionen, der auch den Bäumen eine strukturell neue Bedeutung zuweisen sollte.

In dieser Schrift lassen sich die drei Vertreter der Religionen des Judentums, des Christentums und des Islams unter fünf Bäumen nieder, um ihr Gespräch mit dem »Heiden« – dem Vertreter der griechischen Philosophie – aufzunehmen; die Bäume, unter denen die Gesprächsteilnehmer lagern, repräsentieren ihre jeweiligen Traditionen, der fünfte Baum dagegen vertritt den Versuch der Synthese, die lullische ars combinatoria. Diese ars combinatoria – Lull hatte sie auch als ein System konzentrischer Scheiben entworfen, die sich wie ein begriffsanalytisches Astrolabium einstellen ließen – transformierte die Bäume in Tabellen, mit deren Hilfe kategoriale Strukturen ohne hierarchische Ableitungszwänge, im Sprung von der vertikalen Diachronizität der Klassen und Generationen zur horizontalen Synchronizität der Kombinatorik, gewonnen werden konnten. Die lullische ars ermöglichte eine beachtliche Komplexitätssteigerung der Kategorienbildung, die noch die Wunderkammern der Barockwissenschaft prägen sollte; diese Komplexitätssteigerung verdankte sich der Abwendung vom Stamm- und Deduktionsbaum, dessen Einfluß allerdings noch daran ermessen werden kann, daß Lull – gegen alle Evidenz späterer Tabellen und Kataloge – am Erscheinungsbild des Baumes festzuhalten versuchte.

Die Treue zum Baum kennzeichnet auch die sogenannten sephirotischen Bäume, die in der spanischen Kabbala (unter Bezug auf das Sefer Jezira, einen zahlen- und buchstabenmystischen Traktat aus dem 6. Jahrhundert) eine Fülle von Querverbindungen zu neuplatonischen Elementenlehren, medizinischen und kosmologischen Wissensfeldern eröffneten. Auch die sephirotischen Bäume sahen meist nicht wie Bäume aus: sie glichen komplexen geometrischen Figuren, die dennoch die Illustratoren oft genug dazu verführten, sie in die Umrisse eines Baumes einzuzeichnen. Die spanischen, lullischen oder sephirotischen Bäume wurzelten in einer kulturell manifest gewordenen Abkehr von den intellektuellen wie sozialen und politischen Implikationen der arbor porphyriana. Nicht umsonst gelang es aber erst dem calvinistischen Kritiker politisch-theologischer Repräsentationsordnungen, dem Humanisten Pierre de la Ramée (oder Petrus Ramus), die Begriffsbäume endgültig zu horizontalisieren. Ramée wurde in der Bartholomäusnacht (am 24. August 1572) ermordet; seine Methodik sollte dagegen noch die Enzyklopädistik des 18. Jahrhunderts beeinflussen. Nicht umsonst eröffnete Diderot – nach dem Vorbild von Ephraim Chambers – seine Encyclopédie mit einem quasi-ramistischen Baum der Wissensordnung: dem Systême figurè des connoissances humaines.

2.

Besonderes Interesse verdienen die Überlagerungen von Modellen und Techniken der Visualisierung. Sie bezeugen das Wechselspiel zwischen Bildern und Texten, rhetorischen Strategien und visueller Imagination, Metaphern und Narrationen. Bekannt sind etwa die Paläste der ars memoriae, deren mentale Architektur schon in antiken Lehrbüchern empfohlen wurde. In ihren unsichtbaren Bauten wurden Stichworte und Inhalte einer Rede methodisch plaziert, die dann bei der tatsächlichen Ansprache gleichsam abgeschritten und erinnert werden konnten. Die Praktiken dieser Gedächtniskünste inspirierten wohl auch die Repräsentation genealogischer Ordnungen in Gestalt von Häusern oder Palästen. »Die Zeichner der Darstellungen begrifflicher Verwandtschaftsgruppen – der Bäume der Blutsverwandtschaft – oder auch der eigentlichen Ahnentafeln wählten als Rahmen ihrer Bildnisse häufig ein Haus. Die Alltagssprache leistete dieser Wahl Vorschub: Sprach man nicht auch vom ›Hause‹ der Kapetinger, wenn man jenes Geschlecht oder die Sippe irgendeiner anderen der großen Familien bezeichnen wollte?« 2 Man sprach also von Häusern, aber auch von Bäumen. Manche Häuser wurden darum schon früh in das Bild eines Baums eingeschrieben: etwa jene Miniatur einer arbor consanguinitatis, die zur Illustration einer Abschrift der Etymologiae des Isidor von Sevilla im neunten Jahrhundert (in Montpellier) angefertigt wurde.

Ein anderes Beispiel für solche Interferenzen drängt sich auf. Manche sephirotischen Bäume wurzeln im Himmel, stehen also auf dem Kopf (wie etwa noch in Robert Fludds Darstellung von 1626). Sie werfen die Frage auf, ob denn nicht Gott – und also der Himmel – den Ursprung aller Gattungen des Seienden bilde. Nach der Logik der arbor porphyriana steht das ens an der Spitze, der homo Plato oder Paulus dagegen am Ende der Seite: So wächst aber kein Baum. Darstellungskonventionen geraten in Widerspruch. Auch wer eine Liste oder Erzählung aufschreibt, beginnt am oberen Ende der Seite; wer diese Liste oder Erzählung in die Gestalt eines Baums einzeichnen will, müßte aber den Anfang ans untere Ende, zu den Wurzeln, verschieben – oder eben den Baum auf den Kopf stellen. Freilich konnte sich die Darstellung der arbor conversa schon auf eine Passage aus Platons Timaios berufen: »Über die vorzüglichste Gattung unserer Seele müssen wir uns aber folgende Vorstellung machen, daß Gott sie jedem als einen Schutzgeist verliehen hat – eben der Teil, von welchem wir behaupten, daß er in unserem Körper die oberste Stelle einnehme und uns von der Erde zu dem im Himmel uns Verwandten erhebe, sofern wir ein Gewächs sind, das nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt. Und das behaupten wir mit vollem Recht, denn indem dort, wo die Seele zuerst ihren Ursprung nahm, das Göttliche unser Haupt und unsere Wurzel befestigt, richtet sie den ganzen Körper nach oben.« 3

Häufiger waren es allerdings nicht die symbolischen Ordnungen – vom Timaios bis zu Diderot, und von den Paradiesbäumen bis zum lignum crucis – sondern die Kulturtechniken selbst, die miteinander in Beziehung oder Konkurrenz traten: Bilder, Texte und Diagramme. Doch warum verschmolzen die Formen der Bäume mit anderen Darstellungsformen, etwa in Lulls Wissensbäumen – arbores scientiae –, die er ebensogut (oder vielleicht sogar besser) als Tabellen oder Kreisdiagramme zeichnen hätte können? Worin bestanden die visuellen Vorteile der Bäume, die übrigens noch bis zum 12. Jahrhundert nicht unbedingt eine konkrete Gestalt, sondern vorrangig ein Klassifikationsschema meinten? Arbor gehörte damals – wie rota oder scala – zu den figurae einer Demonstration, bei der das Ranken- und Astwerk lediglich dekorative Funktionen erfüllte. Dabei waren die Bäume schon als Klassifikationsordnungen überaus komplex. Sie verschränkten eine horizontale Differenz (rechts – links) mit einer vertikalen Differenz (oben – unten), und sie repräsentierten folglich – von der Wurzel bis zur Krone – ein System der Verzweigungen in vier Richtungen, was leicht auf temporale Ordnungen übertragen werden konnte. In den Wurzeln zeigte sich die Vergangenheit, in Blättern oder Früchten die Zukunft, und im Stamm die aktuelle Achse, welche Vergangenheit und Zukunft verbindet. Darüber hinaus sind Bäume ihrerseits »Zeitmesser«; an ihren Jahresringen lassen sich Chronologien veranschaulichen, wie etwa Norbert Elias betonte: »In der Tat kann man das Wachstum des Wissens mit dem eines Baumes vergleichen: im Holz des älteren Baumes bleibt seine Oberflächengestalt als junger Baum immer noch als eine innere Schicht oder ein Ring innerhalb der größeren Gestalt sichtbar.«4

Abstrakte Modelle drängten zu immer konkreterer Gestaltung: Bäume sind eben dreidimensionale Pflanzen, die auch in ihrer flächigen Projektion gleichsam einen Komplexitätsüberschuß transportieren: Jeder Strukturbaum lädt sich wie von selbst mit einem Mehrwert an Bedeutungen auf, die nicht seiner aktuellen, zweidimensionalen Darstellung, sondern vielmehr einer vorgängigen Wahrnehmung seiner dreidimensionalen Gestalt entspringen. Vielleicht wurden die Bäume auch darum ab dem Spätmittelalter – und insbesondere nach der Erfindung des Buchdrucks – immer anschaulicher dargestellt, was zugleich auch eine Wahrnehmung ihrer immanenten Selbstbezüglichkeit ermöglichte. Denn die konkreten Bäume können als rekursive, selbstähnliche Strukturen gesehen werden, die sich auf allen Ebenen wiederholen oder zitieren; im Baum verkörpert sich also nicht nur ein bestimmtes Wissen, sondern auch das Wissen um das Wissen selbst. Bäume sind selbstreferentiell (wie die Kulturtechniken ihrer Erzeugung); die Prinzipien der Bäume lassen sich beispielsweise konsequent auf Bäume anwenden. Die Differenzierung unterschiedlicher Gattungen und Arten (Nadelbäume, Laubbäume) gestattet die Perzeption einer bemerkenswerten morphologischen Vielfalt, die dennoch das einheitliche Prinzip der Gestalt, der Kategorie des Baums, nicht in Frage stellt: fast jeden Baum erkennen wir sofort als Baum, gleichgültig, ob er in Kanada, im brasilianischen Regenwald, im Berliner Grunewald oder in einem japanischen Bonsai-Garten steht.

Insofern ist es wenig verwunderlich, daß die Bäume nicht nur mit Häusern, Tabellen, Kreisen oder anderen Diagrammen verschmelzen konnten, sondern auch mit Buchstaben und Alphabeten. »Es sieht so aus, als habe es im täglichen Leben des Mittelalters eine besondere Beziehung zwischen dem Buchstaben und dem Wald gegeben. Sankt Anna, Schutzpatronin des Lesens und Lesenlernens, war zugleich die Schutzpatronin der Schreiner, Tischler und Drechsler.«5 Zunächst waren es vorrangig einzelne Buchstaben, die als Initialen häufig mit Ornamenten verziert wurden, die an Flechten und Ranken erinnerten. In der angelsächsischen Buchmalerei des neunten und zehnten Jahrhunderts dominierten zwar zuerst die Lindwürmer, die jede Biegung der Buchstabenform mitmachen konnten, bald danach jedoch die pflanzlichen Elemente: »Das Flechtwerk ist König. Stiele, Blätter und Blüten werden dicker und erobern nach und nach, parallel zu den Reliefs in der Bildhauerei, die dritte Dimension, die in den zeichnerischen Darstellungen der folgenden Jahrhunderte überwiegen wird.«6 Einzelne Lettern nahmen auch direkt die Gestalt eines Baums an, beispielsweise das A, das I oder das Y. Besonders das Y wurde spätestens seit Isidors Etymologiae gern auf den ramus aureus in Vergils Aeneis zurückgeführt, mit dessen Hilfe der Held – im sechsten Buch – den Weg zum Tartarus findet. Die ursprüngliche littera Pythagorae Y, Zeichen für die Gabelung eines Weges, wurde zunehmend als Baum interpretiert. »Wie im Falle der baumartigen Darstellung der Verwandtschaftsgrade dürfte sich Isidors Metaphorik auch bei der weiteren Rezeption des Y-Signums förderlich auf die Affinität von Y und Baum ausgewirkt haben.«7

Die Verbreitung der Baumdarstellungen nahm nach der Erfindung des Buchdrucks sprunghaft zu. »Binnen kurzer Zeit hatte sich der Buchdruck der Figur des Baumes bemächtigt. Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts brachte er Bilder unter die Leute, die bis dahin in Manuskripten eingeschlossen waren und nur in Räumen mit beschränktem Zugang eingesehen werden konnten. Durch die zahllosen Drucke einer Abhandlung des Kanonikers Giovanni di Andrea fanden beispielsweise die Bäume der Blutsverwandtschaft (arbores consanguinitatis) weite Verbreitung.« Vor allem im deutschen Sprachraum wurden die Baumbilder durch Holzschnitte (und später durch Einblattdrucke) popularisiert. Zunehmend traten die Bäume auch in Erscheinung, um für Schule und Lesenlernen, für Alphabetisierung, zu werben. Die Metaphorik der Pflanzung prägte schon die frühneuzeitliche Pädagogik, was bis zum heutigen Tag durch Ausdrücke wie »Seminar« – von »Seminarium«, Pflanz- oder Baumschule – bezeugt wird. Noch Jan Amos Comenius bediente sich (im 17. Jahrhundert) gern dieser Metaphorik, beispielsweise in seinem Entwurf über die Erneuerung der Schulen im Königreich Böhmen, wo es heißt: »Wie ein Baum aus einem kleinen Kern oder einem Samen entsteht, aber Jahr um Jahr immer neue Zweige treibt und kräftig wird, so wird der Mensch an Leib und Seele nicht groß geboren, aber er erlangt im Verlaufe seines Wachstums Größe. Es ist doch nicht möglich zu wachsen, wenn die für das Wachstum erforderlichen Bedingungen nicht gegeben sind; alles wächst aber herzlich gern, ohne alle Mühe und gefällig, wenn der Gärtner sein Geschäft versteht und das, was zum Wachsen benötigt wird, willig und richtig darreicht.«9

Im Jahr 1529 publizierte der französische Drucker Geoffroy Tory seine dem »Fürsten« der Baukunst – Vitruv – gewidmeten Bildstudien zur Gestalt der Buchstaben. Der Titel des Werks erinnert an den Paradiesgarten: Champ Fleury. Tory versuchte, den Zusammenhang zwischen menschlichen Körperproportionen und Buchstaben mit geometrischer Präzision nachzuweisen. Die Gestalt des Baumes tauchte dabei gelegentlich am Bildrand auf, etwa im Falle der Darstellung des I, das Tory als goldene Kette interpretierte. »Ich kann nicht darüber hinweggehen, ohne zu zeigen, daß unsere besagten Buchstaben durch göttliche Eingebung erfunden worden sind. Es ist bekannt, daß der König der griechischen Dichter, Homer, zu Beginn des achten Buches seiner Ilias berichtet, Jupiter habe einst gesagt, er könne ganz allein, wenn er wollte, alle anderen Götter und mit ihnen sogar die Erde und das Meer mit einer goldenen Kette an sich ziehen.«10

Im Livre de l’art d’écrire (aus dem 15. Jahrhundert) wurde das I übrigens mit dem Baum der Erkenntnis assoziiert. Torys humanistische Orientierung, seine Verehrung der antiken Künste und Wissenschaften, führte typographiegeschichtlich zur Durchsetzung der Antiqua gegen die gotischen Lettern; sie kam aber beispielsweise auch in seiner Darstellung des goldenen Zweigs, des ramus aureus (mit seinen charakteristischen Y-Gabelungen), zum Ausdruck, der zum »Zweig der Unwissenheit« – la branche dignorance – degenerieren kann, wenn er seine Blätter verliert. Die Blätter dieses Zweigs tragen 23 Buchstaben, die den 23 Ästen des goldenen Zweigs entsprechen. Der Hinweis auf die ignorance, die durch Alphabetisierung bekämpft werden soll, verdeutlicht unmittelbar, was Torys Champ Fleury insgesamt demonstriert: daß nämlich menschliche Körper durch Buchstaben geometrisiert und codiert werden sollen.

Wenige Jahrzehnte vor Tory operierte Johannes Geiler von Kaysersberg, vielleicht der volkstümlichste Prediger des ausgehenden Mittelalters (vor der Reformation), ein humanistisch gebildeter Freund Sebastian Brants – und 1476 Rektor der Universität Freiburg im Breisgau – mit alphabetisch sortierten Predigten. Jeder Abschnitt dieser Predigten begann mit einem Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets. Diese moderne Ordnung nach dem ABC wurde aber neuerlich mit einem Baum assoziiert, wie schon die Vorbemerkung der gedruckten Predigt festhielt:

»Dise nachgeschriben predig hat gelert und geprediget eyn hoch gelerter andechtiger doctor mit namen Johannes von Keyserssperg und auß großer liebe die er hat zů got und darnach zů seinen naechsten hatt er es einer andechtigen person mitt sein selbs handt geschriben und zů loetz gelassen und in damit beweyßt wie Zacheus auff den baum stig das er Jhesum saech also <.> woellen wir Jhesum saehen so mueßsen wir auch auff den baum steygen und der selb baum hat .xxiij. oest und die selben oest seind bezaichnet bey den xxiij. bůchstaben d<e>s abc.«11



Ausdrücklich sollte die »ordenung des abc« die Regeln der ars moriendi oder der »heilsamen Lehre« dem Gedächtnis einprägen; doch bedurfte das ABC offenbar der visuellen Unterstützung durch ein Baumbild. Daher illustrierte der Drucker Johannes Zainer (aus Ulm) die 1490 gedruckte Ausgabe der Alphabetpredigt mit einem – von ihm selbst entworfenen – Holzschnitt des Alphabetbaums. Bei anderer Gelegenheit kommentierte Geiler von Kaysersberg einen Holzschnitt zur Predigt über den Baum des Zacheus mit dem Hinweis auf die Äste des Baums, die zugleich als die sieben Buchstaben des Namens Zacheus verstanden werden sollten.13

In derselben Zeit wie die vom Ulmer Drucker Johannes Zainer illustrierte Alphabetpredigt Geilers von Kaysersberg – nämlich im Jahr 1491 – entstand ein genealogischer Baum des österreichischen Geschlechts der Babenberger. Dieser frühe Stammbaum wurde von Ladislaus Sunthaym14 erarbeitet, einem Kaplan und Historiographen im Dienst Kaiser Maximilians I., mit freundschaftlichen Beziehungen zur »Donaugesellschaft« der Humanisten Konrad Celtes, Johannes Stabius und Jakob Mennel. Just mit einer Kommentierung dieses Baums beginnt auch Christiane Klapisch-Zubers umfassende Untersuchung des L’ombre des ancêtres, des Schattens der Vorfahren; sie beginnt ihre Einleitung mit den Sätzen: »Ein merkwürdiger Stich ziert das 1491 erschienene Werk des Ladislaus Sunthaym. Er stellt die Genealogie der Babenberger dar, einer Fürstenfamilie, die bis zum Ende des 13. Jahrhunderts in Österreich regierte. Wir sprechen hier von einem ›Stammbaum‹. Der Stammbaum der Babenberger gehört zu den ältesten Bildern, in denen wirkliche Individuen, lebende Menschen oder ihre Vorfahren auf die Äste und Zweige eines echten Baums gesetzt wurden.«15 Was Klapisch-Zuber nicht kommentiert, ist die Verschlüsselung dieses frühen Stammbaums durch Buchstaben, die zunächst wieder an Geilers Alphabetbaum denken läßt. Aber hier geht es nicht um die Unterweisung eines Schülers, um Propaganda für die Alphabetisierung. Der Babenberger-Stammbaum verbindet – erstmals vielleicht – das Ordnungssystem des Baums mit dem Klassifikationssystem des Alphabets: Denn die Buchstaben codieren konkrete Personen, die Sunthaym in den Texten zu seinen Tafeln auch biographisch charakterisierte.

Abgesehen davon, daß sich die Entwicklungsgeschichte des Alphabets selbst in Baumform darstellen läßt, sind die Buchstaben- und Alphabetbäume bis heute nicht ganz ausgestorben. Sie bevölkern nach wie vor manche Schulbücher der Orthographie; und sie sind emigriert in Kunsthallen und Museen. 1920 skizzierte beispielsweise der Pariser Schriftsteller, Dadaist (und spätere Surrealist) Georges Ribemont-Dessaignes einen »L’arbre à violon«; seine Tuschzeichnung hängt heute im Kunsthaus Zürich. Unter direktem Bildbezug auf Geilers Alphabetbaum errichtete der Schweizer Künstler Ernst Buchwalder einen »poetree«, indem er Lettern in einen Baum hängte und diese Installation fotografierte; eine andere Arbeit desselben Künstlers – dessen Werke offenbar durch seinen Namen inspiriert werden – zeigt ein »Alphabeet«, in dem die Buchstaben in geordneten Reihen aus dem Gartenboden wachsen. Auch diese Fotografie kann als Zitat interpretiert werden, und zwar als Kommentar zu den lyrischen »alfabeeten« des Schweizer Pfarrers Kurt Marti, die von der Graphikerin Anna Albisetti illustriert wurden. Für alle diese Kreationen gilt freilich, daß sie den Ernst der Alphabetisierung von Wissensordnungen – mehr als ein halbes Jahrtausend nach Gutenberg – nur mehr ironisch und spielerisch thematisieren können.

4.

Die Geschichte der Alphabetbäume wirft eine Reihe von Fragen auf. Wieso war es gerade der Buchdruck, der die Visualisierungen durch Stammbäume aufgriff und verbreitete? Wäre es nicht naheliegender gewesen, gleich das Prinzip der Schrift, das Alphabet, als Ordnungssystem einzusetzen, statt es mit Bäumen und Zweigen zu illustrieren? Gewiß, die Assoziation mit Pflanzung, Hegung und Wachstum – als Allegorien der Pädagogik und Alphabetisierung – mag eine Rolle gespielt haben; doch wieso wurden die Bäume in der Darstellung stärker naturalisiert als jemals zuvor? In gewisser Hinsicht waren die realistischen Bäume aus dem späten 15. Jahrhundert freilich abstrakter als die arbores des Hochmittelalters; denn sie zitierten nicht nur verschiedene Metaphern und Narrationen (vom Baum der Erkenntnis bis zum Baum des Kreuzes, vom »goldenen Zweig« bis zum Baum des Zacheus), sondern eben auch die Prinzipien konkurrierender Wissensordnungen und – nicht zuletzt – ihrer eigenen Generierung. Wer einen Holzschnitt von einem realistischen Baum anfertigt, ein Blatt von einem Baum, referiert – nicht anders als die heilige Anna – auch auf das ursprüngliche Material seiner Tätigkeit.

Jede Wissensordnung entspringt der Anwendung von Kulturtechniken. Was aber sind Kulturtechniken? Der Begriff ist ein wenig unglücklich gewählt; denn er meint nicht die Vielfalt aller Techniken, die in einer Kultur angewendet und praktiziert werden ? und er meint auch nicht die landwirtschaftliche Kultivierung der Natur (die mit einem älteren Begriff von Kulturtechnik adressiert wurde). Kulturtechniken sind Techniken, mit deren Hilfe symbolische Arbeiten verrichtet werden. Jede Kultur basiert auf zahlreichen Techniken, die ihr Überleben absichern, etwa den Techniken der Feuernutzung, der Jagd, der Ernährung und Küche, des Ackerbaus, der Ökonomie oder der sozialen Organisation. Doch entsteht eine Kultur nicht allein aus diesen differenzierten Techniken, sondern vielmehr aus ihrer symbolischen Arbeit. Diese symbolische Arbeit verleiht allen Tätigkeiten ihren spezifischen Sinn, sie ordnet gleichsam den Kosmos und ermöglicht es einer Kultur, Begriffe von sich selbst zu entwickeln. Symbolische Arbeiten bedürfen der Kulturtechniken: Sprechen und Verstehen, Rechnen und Messen, Bilden und Darstellen, Schreiben und Lesen, Singen und Musizieren.

Kulturtechniken unterscheiden sich von allen anderen Techniken durch ihren potentiellen Selbstbezug, durch eine Pragmatik der Rekursion. Von Anfang an kann man vom Sprechen sprechen, über Kommunizieren kommunizieren. Man kann Bilder malen, in denen Bilder – oder Maler – erscheinen; im Film werden Filme gezeigt. Man kann nur rechnen oder messen, indem man auf Rechnen und Messen Bezug nimmt. Und natürlich kann man vom Schreiben schreiben, vom Singen singen und vom Lesen lesen. Dagegen ist es unmöglich, das Feuermachen im Feuermachen, das Pflügen im Pflügen, das Kochen im Kochen, das Jagen im Jagen zu thematisieren. Wir können uns zwar über Kochrezepte oder Jagdmethoden unterhalten, ein Feuer malerisch oder theatralisch darstellen, ein neues Bauwerk entwerfen; aber genau dann bedienen wir uns ja der Techniken symbolischer Arbeit – und machen gerade kein Feuer, jagen, kochen oder bauen nicht. Kulturtechniken sind – nach einem Ausdruck der Systemtheorie – second order techniques.

Während die Frage nach der ältesten, der ursprünglichen Kulturtechnik – Sprechen oder Bilden, Zählen, Rechnen oder Singen? – nicht entschieden werden kann, läßt sich rasch demonstrieren, wie die Kulturtechniken nicht nur jeweils auf sich selbst, sondern stets auch auf die anderen Kulturtechniken referieren. Kulturtechniken üben stets eine Art von Wechselwirkung aufeinander aus, und zwar nicht erst, seitdem Computer die Konversion von Gleichungen in Bilder, von Texten in Musik, oder von Bildern in Texte und (womöglich geheime) Botschaften ermöglichen. Sie stehen als Techniken in einem wechselseitigen Zusammenhang der Selbstthematisierung: Bilder können in Texten beschrieben oder durch Rechnungen generiert werden (von der griechischen Geometrie bis zur Erfindung der Zentralperspektive oder der fraktalen Mathematik), Texte können in Bildern erscheinen oder in Musik übergehen, die wiederum als Harmonie berechnet werden kann. Was die Kulturtechniken miteinander verschränkt, sind ihre Rekursionen und Ordnungssysteme, aber auch die Artefakte, die sie erzeugen: Texte, Bilder, Notationen aller Art. Nichts anderes demonstrieren die Bäume. Sie transponieren Geschichten, Wissensordnungen, horizontale und vertikale Konjunktionen. Als Gestalten zeigen sie an, was sie bewirken wollen: das Wachstum, die Vermehrung und multiperspektivische Verzweigung eines Wissens, das sich in Bildern ebenso artikuliert wie in Zahlen oder in den Buchstaben der Schrift. Und natürlich waren die Alphabetbäume auch experimentelle Visualisierungen, in denen die mögliche Leistung eines alphabetischen Ordnungssystems – wie im Index des Stammbaums der Babenberger – erstmals ausprobiert werden konnte.

Vielleicht wurden die Vorzüge der alphabetischen Serienbildung nur langsam erkannt, ebenso wie die Vorteile des indoarabischen Stellenwertsystems gegenüber der römischen Zahlenschrift; und womöglich bedurfte diese Einsicht gerade des Buchdrucks und der neu gewonnenen, materiellen und morphologischen Erfahrung der Bleilettern im Ordnungsraum des Setzkastens. Aber zugleich bedurfte sie offenbar jener präziseren Wahrnehmung der Bäume, wie sie Elias Canetti – ebenso exemplarisch wie konkret – in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1969 charakterisiert hat: »Was immer er erlebt, schießt in die Höhe wie Bäume. Ist es das, was man die mythische Fähigkeit nennt? Sind diese Bäume die Mythen, oder einige von ihnen, oder einer? Welche? Gehören Blätter dazu, und was ist der nackte Baum? Manche nennen es anders, und sagen statt Wachsen Übertreibung. Aber es schießt nicht nur hinauf, es greift nach allen Seiten aus, verbindet sich, verwickelt sich, verquickt sich mit anderem. Das Wuchern ist das Wichtige, aufs Wuchern kommt es an, Verwechslungen gehören dazu, Umarmungen und Unterwanderungen.«16


1 | Vgl. Jesaja 11,1: »Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.« Zitiert nach: Neue Jerusalemer Bibel. Herausgegeben von Alfons Deissler und Anton Vögtle. Freiburg im Breisgau: Herder 1985. Seite 1047.

2 | Christiane Klapisch-Zuber:Stammbäume.Eine illustrierte Geschichte der Ahnenkunde. Übersetzt von Egbert Baqué. München: Knesebeck 2004. Seite 46.

3 | Platon: Timaios 90a.In:Sämtliche Werke.Band V. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher und Hieronymus Müller. Hamburg: Rowohlts Klassiker 1959. Seite 210. Vgl. auch Christiane Klapisch-Zuber: L’ombre des ancêtres.Essai sur l’imaginaire médiéval de la parenté. Paris: Fayard 2000. Seite 237.

4 | Norbert Elias: Engagement und Distanzierung.Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Herausgegeben von Michael Schröter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. Seite 104.

5 | Danièle Alexandre-Bidon: L’arbre à alphabet. In: Michel Pastoureau (Hrsg.): Histoire naturelle et symbolique de l’arbre, du bois et du fruit au Moyen Age.Paris: Éditions le Léopard d’Or 1993. Seite 127-143; hier: Seite 133.

6 | Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Übersetzt von Philipp Luidl und Rudolf Strasser. Ravensburg: Otto Maier 1970. Seite 41.

7 | Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München: Wilhelm Fink 1970. Seite 65

8 | Christiane Klapisch-Zuber: L’ombre des ancêtres. A. a. O. (Anm. 3). Seite 273.

9 | Jan Amos Comenius: Kurzer Entwurf über die Erneuerung der Schulen im Königreich Böhmen.In: Gerhard Arnhardt/Gerd-Bodo Reinert (Hrsg.): Jan Amos Comenius über sich und die Erneuerung von Wissenschaft, Erziehung und christlicher Lebensordnung. Band II. Donauwörth: Auer 1996. Seite 368-381; hier: Seite 371.

10 | Zitiert nach Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. A. a. O. (Anm. 6). Seite 31.

11 | Johannes Geiler von Kaysersberg:Heilsame Lehre und Predigt [1489].In: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Gerhard Bauer. Band I. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1989. Seite 15-25; hier: Seite 19.

12 | Ebda. Seite 97-110; hier: Seite 101.

13 | Johannes Geiler von Kaysersberg: Erklärung des Bildes vom Baum des Zacheus. In: Sämtliche Werke.Herausgegeben von Gerhard Bauer. Band II. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1991. Seite 496 f.

14 | Vgl. Floridus Röhrig: Der Babenberger-Stammbaum im Stift Klosterneuburg.Wien: Edition Tusch 1975.

15 | Christiane Klapisch-Zuber: L’ombre des ancêtres.A. a. O. (Anm. 3). Seite 7.

16 | Elias Canetti: Nachträge aus Hampstead.Aufzeichnungen. München/Wien: Carl Hanser 1994. Seite 154.