Wenn Sie auf diesen Text verweisen möchten: Almut-Barbara Renger (Hrsg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace, Stuttgart/Weimar (Metzler) 2002, 13-25; sowie in: Wolfgang Braungart/Klaus Ridder/Friedmar Apel (Hrsg.): Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld (Aisthesis-Verlag) 2004, 231-246.
Die Wissenschaftsgeschichte – zumal in ihrer französischen Ausprägung, von Bachelard bis Foucault, von Michel Serres bis Vernant oder Gérard Simon – begünstigt die Hypothese, daß »Sehen« ebensowenig als eine anthropologisch-universelle, transkulturelle Tätigkeit interpretiert werden muß wie Denken oder Sprechen. Sehen kann vielmehr als eine historisch-kulturelle Praxis gedeutet werden, die in zahlreichen Varianten aufzutreten vermag: daraus ergibt sich, daß es keine prinzipiell »richtigen« oder »falschen« Sehtheorien gibt, sondern lediglich Sehtheorien, die bestimmte Praktiken und Techniken des Sehens – von religiösen Ritualen bis zu optischen Geräten – ermöglichen oder ausschließen. Einfacher gesagt: Wer sein Sehen anders denkt und anders regelt, wer gelernt hat, sein Sehen anderen Modellen oder Regeln zu unterwerfen, »sieht« eben wahrscheinlich anders, und zwar sogar unter ähnlichen physiologischen Bedingungen (was immer das heißen mag). So gehen beispielsweise die antiken Sehtheorien von einer Aktivität des Gesichtssinns aus: spätestens seit der Optik Euklids wird das Sehen als Blicken gedacht, und das Blicken als eine Strahlung, die – kegelförmig – vom Auge bis zum gesehenen Gegenstand reicht. »Der Sehstrahl wird als eine Art Auswuchs der Seele aufgefaßt, der mit dem Licht und dem Feuer verwandt ist und die Dinge sozusagen auf Distanz betastet. Die Theorie beruht auf einem unwillkürlichen Vergleich mit der Berührung, so als ob es sich um ein sensitives, aus der Pupille austretendes Psychopodium handelte. Daraus folgt, daß der Sehstrahl eine in unserer Kultur im strengen Sinne undenkbare Entität ist. Er ist räumlich, mehr oder weniger feurig, pflanzt sich geradlinig fort und wird von einem Hindernis abgelenkt – all dies Charakteristika, die für uns Moderne für ein physikalisches Objekt gelten. Und doch ist er aus sich heraus mit Sensibilität begabt, mit einer Sensibilität also, die sich außerhalb des Körpers betätigt – was ihn zugleich zu einem psychischen Objekt macht, welches aber zudem und darüber hinaus in nichts dem entspricht, was uns Anatomie und Physiologie von unserem Körper zu denken gelehrt haben. Für einen antiken Menschen vollzieht sich die visuelle Sensation am Ort des Objektes selbst, dort, wo der Sehkegel mit dessen Oberfläche in Berührung kommt und mit seiner Basis dessen Form übernimmt.« 1
Das optische Modell der Sehstrahlung zwingt zu einer gewissen Sorgfalt und diätetischen Kultivierung der Blicke. Es ermöglicht andere Wahrnehmungen: ein buchstäbliches »Begreifen« der Dinge, ein Auffassen, das dem Anfassen gleichkommt und das Angeschaute dem Vergessen – dem Nichtgesehen-werden – entreißt. Und es ermöglicht andere Technologien: vom »Schattenzeiger«, der die Botschaften der Himmelssphären in den Sand schreibt, 2 bis zur feurigen Telegraphie, die den Untergang Trojas signalisierte. 3 Die Augen generieren das Licht, anstatt es zu empfangen; sie können Zuneigung und Zorn nicht nur ausdrücken, sondern regelrecht exekutieren. Wer bewußt sieht, emigriert nicht in die innere Höhle seines Bewußtseins, um aus deren Augenfenstern auf Welt und Menschen zu schauen, – er wandert vielmehr in die Blickrichtungen seiner strahlenden Pupillen. Die Kultur der aktiven Blicke erzeugt andere Differenzierungen: die akustisch – weniger optisch – geprägte Vielfalt der Gestalten des »Bei-sich-seins« (etwa in der cura sui) oder des »Außer-sich-seins« (etwa in Trance und Ekstase), die Erscheinungen blinder Seher (wie Teiresias), tödlicher Frauengesichter (wie Medusa) oder tieräugiger Gottheiten (wie Artemis oder Athene). Die Regeln dieser Kultur sind inzwischen so fremd geworden, daß leicht unterschlagen werden könnte, wie oft wir selbst noch die Erfahrung von »Sehstrahlung« machen – sobald wir nämlich ohne Worte, bloß mit den Augen kommunizieren, um einen geliebten Menschen zu berühren oder einen gehaßten Menschen zu verletzen. Wer wollte leugnen, daß diese Blickkontakte körperliche Sensationen auslösen? Doch die seltsame Wirkung dieser Blicke, die stechen, töten oder entkleiden, aber auch trösten, besänftigen oder streicheln können, wird allemal überboten von der neuzeitlichen Evidenz der Spiegelungen und Reflexionen, die das Wahrnehmen als Passion, als spezifische Repräsentationsordnung zwischen Außenwelt und Innenwelt (des Bewußtseins), vorzustellen empfiehlt.
Die optische Theorie der Antike (von Euklid bis Ptolemäus) rechnete weder mit dem Auge, noch mit dem Licht oder dem sichtbaren Gegenstand, sondern nahezu ausschließlich mit der geometrischen Ordnung der Blicke. Spiegel wurden in der Optik als »Werkzeuge«, als »Medien« der Strahlung gebraucht: wie die legendären Brennspiegel des Archimedes, die bei der Verteidigung von Syrakus gegen die römische Flotte eingesetzt worden sein sollen. Die meisten Spiegel wurden nicht als Flachspiegel, sondern als Konvex- oder Konkavspiegel konstruiert, geeignet für optische Experimente. Dem Spiegelbild wurde weder im wissenschaftlichen Experiment noch im Alltag ein relevanter Status eingeräumt: was vielleicht auch auf die verwendeten Spiegelmaterialien zurückgeführt werden darf. Die Spiegel des Archimedes waren vermutlich – wie zahlreiche andere Spiegel seit dem vierten vorchristlichen Jahrtausend – aus Bronze gefertigt; im Laufe der Zeit wurde freilich beinahe jedes Metall, das geschürft und poliert werden konnte, zur Erzeugung von Spiegeln verwendet. Rund ein Jahrhundert nach Platons Geburt wurde in Griechenland eine eigene Spiegelmacherschule eröffnet; dort lernten die Handwerker die Kunst, eine Metallscheibe mit Sand so zu glätten und zu polieren, daß sie dabei nicht zerkratzt wurde. Bei Römern und Etruskern waren Silberspiegel besonders beliebt; im ersten vorchristlichen Jahrhundert setzten sich aber auch Goldspiegel durch, die von der Dienerschaft in reichen Haushalten als Teil der Entlohnung bevorzugt wurden. Metallspiegel waren in der Regel nicht sehr groß; sie wurden hauptsächlich als Handspiegel (mit einem Griff) oder Klappspiegel (mit einem Standfuß) produziert. Auch die Tiefenschärfe und Farbentreue der Metallspiegel kann wohl kaum den Ansprüchen genügt haben, die heutzutage selbstverständlich an einen Spiegel erhoben werden. Erst im 14. Jahrhundert gelang in Venedig – dem Zentrum der europäischen Glasbläserkunst – die Herstellung der ersten Glasspiegel. Die Gründe für diesen späten Zeitpunkt – immerhin wurden Gläser und Gefäße bereits seit vielen Jahrhunderten erzeugt – sind evident: Glas kann (im Unterschied zum Metall) nicht geglättet und poliert werden. Glasscheiben mußten darum perfekt gegossen werden, und zwar als Hohlzylinder, die anschließend auseinandergedrückt wurden. Die ersten Glasspiegel erreichten noch kaum eine halbwegs unverzerrte Wiedergabe des Spiegelbilds. Dennoch trat der Glasspiegel fast augenblicklich einen beispiellosen Triumphzug an. Im Venedig des 14. Jahrhunderts trugen die reichen Bürger »demonstrativ Glasspiegel an goldenen Ketten um den Hals wie einen brillantbesetzten Anhänger. Es kam nicht darauf an, wie gut diese Spiegel ihren eigentlichen Zweck erfüllten – Hauptsache, man konnte anderen seinen Reichtum vorführen. Männer trugen Degen, in deren Griffe kleine Spiegel aus Glas eingelassen waren; hohe Würdenträger sammelten serienweise Glasspiegel in Rahmen aus Elfenbein, Silber und Gold, die nicht zuletzt wegen ihrer mangelhaften Qualität eher Renommier- und Ausstellungsstücke als Gebrauchsgegenstände waren.« 4
Der Durchbruch zur modernen Spiegelproduktion wurde erst im 17. Jahrhundert geschafft: im Jahr 1687 sicherte sich der französische Glasmacher Bernard Perrot das Patent auf ein Verfahren zur gleichmäßigen Walzung von Glasplatten; seither war es möglich, nicht nur optische Spiegel oder kosmetische Hand und Klappspiegel, sondern lebensgroße Wand- und Standspiegel herzustellen. Mit Hilfe dieser Technik konnten Räume buchstäblich »repräsentativ« gestaltet werden: wie der berühmte Spiegelsaal im Schloß Versailles, der im Jahr 1686 errichtet wurde. Mit Hilfe der modernen Spiegeltechnologie konnte der Zauber des Spiegels (der vom archimedischen Brennspiegel bis zum Lorrain-Glas, von der mittelalterlichen magia naturalis bis zum katoptrischen Illusionstheater des Barock 5 die gelehrten Köpfe fasziniert hatte) neu definiert werden: während die alten Spiegel – als genuine »Medien« der »Sehstrahlen«, aber auch aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit – eine Magie der Verwandlung, der Verzerrung, der Lichtbrechung und -übertragung, der Verbrennung, der Verkleinerung und Vergrößerung bewirkten, ermöglichten die neuen Spiegel (seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts) eine Magie der Verdopplung, der täuschenden Ähnlichkeit, der Reproduktion und der Repräsentation. Während die Täuschung beim alten Spiegel darin bestehen mochte, ein Objekt in verzerrter Gestalt und an der falschen Stelle erscheinen zu lassen, ergab sich der Täuschungseffekt beim neuen Spiegel daraus, daß er die Objekte in ihrer natürlichen Gestalt und an der richtigen Stelle, aber in einem symmetrisch reziproken, lediglich seitenverkehrten Raum auftreten ließ. Einfacher gesagt: das »Spiegelkabinett«, das als Labyrinth, in dem sich die Besucher »verlieren« können, noch auf manchen Rummelplätzen steht, wurde vom »Spiegelsaal« übertroffen, der die serielle Vervielfältigung des Königs – wie auf dem Titelblatt des »Leviathan« von Thomas Hobbes, publiziert im Jahre 1651 – demonstriert. Der Verwandlungszauber unterlag dem Wiederholungszauber, und zugleich wich die Magie des Handwerks den wundersamen Maschinen der Warenindustrie; die Ungeheuer der »Metamorphosen« (von den Werwölfen bis zu den Sirenen) wurden folgerichtig von den »Doppelgängern« der Romantik abgelöst.
Die spiegeltechnische Revolution des 17. Jahrhunderts wurde begleitet und ermöglicht durch jenen bekannten und vielzitierten Umsturz der Sehtheorie, den Johannes Kepler – im Anschluß an die arabische Optik 6 – durchzusetzen verstand: den Paradigmenwechsel vom Sende- zum Empfangsmodell des Sehens. »Strahlung« wurde durch »Spiegelung« ersetzt. »Das Sehen, wie ich es erkläre,« schrieb Kepler im Jahre 1604, »kommt dadurch zustande, daß das Bild der gesamten Halbkugel der Welt, die vor dem Auge liegt, und noch etwas darüber hinaus auf die weißrötliche Wand der hohlen Oberfläche der Netzhaut gebracht wird.« Das Sehen sollte freilich nicht allein einem Spiegelungsprozeß entspringen, sondern darüber hinaus einem Transfer der optisch generierten Bilder vor das innere Auge der Seele: »Ich muß es den Physikern zur Entscheidung überlassen, auf welche Weise sich das Bild oder dieses Gemälde mit den geistigen Sehstoffen verbindet, die ihren Sitz in der Netzhaut und den Nerven haben, und ob es durch diesen geistigen Stoff nach innen in die Hohlräume des Gehirns zum eigentlichen Sitz der Seele oder der Sehfähigkeit gebracht wird oder ob die Fähigkeit zu sehen von der Seele wie ein Quästor bestellt wird, der aus dem Hauptsitz des Gehirns nach außen zu den Sehnerven und der Netzhaut wie zu den unteren Bänken herabsteigt und diesem Bilde entgegenschreitet.« 7 Das Sehen wird hier gegliedert in ein äußeres (optisches) Sehen, bei dem sich Gegenstände auf der Netzhaut abbilden und spiegeln, und in ein inneres (mentales) Sehen, bei dem die Seele gleichsam die empfangenen Bilder »auswertet«, gleichgültig, ob sie von den niedrigen Chargen vor ihren Sitz getragen oder von ihr selbst bei den okularen »Meldestellen« abgeholt werden. Keplers Optik – als endgültiger Abschied von den »Sehstrahlen« der Antike – setzt Bewußtsein als Instanz der Spiegelung, der Reflexion, und zwar in scharfer Differenzierung zwischen Innen und Außen; er verleiht somit der Erfahrung des Blicks in einen neuzeitlichen Glasspiegel, – bei dem ich mich spiegelbildlich und unverzerrt als jenen Menschen erkennen kann, der sich selbst beim Sehen zusieht, – eine Art von metaphysischer Nobilitierung.
Was durch diesen Paradigmenwechsel ermöglicht wurde, ist mutmaßlich nicht wenig: nämlich die Vorstellung von einem Bewußtsein, das einerseits die ankommenden Bilder im Spiegel der Netzhaut aufnimmt, ordnet und erkennt, andererseits jedoch in den eigenen Spiegel (der Seele oder des Gehirns) blickt, um sich überhaupt als Aufnahme-, Ordnungs- und Erkenntnisorgan konstituieren zu können. Zwei Schwierigkeiten haben seither die Epistemologie der Moderne – sagen wir: von Descartes bis Baudrillard – begleitet. Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus einem optischen Apriori der Erkenntnistheorie: seit Kepler stehen Philosophen wie Kognitionswissenschaftler vor der »dunklen Wand«, 8 hinter der die Bilder in organische, elektrische, biochemische Prozesse zu mutieren pflegen. Wie kann der Repräsentationsbegriff beispielsweise auf die neuronalen Strukturen der Großhirnrinde bezogen werden? Kann das Gehirn – wie ein Computer – als Maschine zur digitalen Bildspeicherung interpretiert werden? Wie müssen die autoreferentiellen Strukturen dieser Maschine gedacht werden? Solchen und ähnlichen Fragestellungen sekundiert jene Dominanz visueller Erkenntnismodelle, die zu einer maßlosen kulturellen Überschätzung der Bilder beiträgt: einerseits werden die Bilder immer höher bewertet, andererseits immer schärfer kritisiert. Einer latenten Ikonomanie korrespondiert ein latent ikonoklastischer Affekt. Ikonomanie wie Ikonoklasmus nähren sich aber aus demselben epistemologischen Apriori der Optik, das als eine zweite Schwierigkeit moderner Erkenntnis- und Bewußtseinstheorien charakterisiert zu werden verdient. Wenn es nämlich beim Sehen – und zwar sowohl beim Blick auf die äußere Welt, als auch beim Blick auf das eigene Ich – um Erkennen (und zwar um ein wahrheitsfähiges Erkennen) geht, dann steigt das Risiko der (optischen) Täu-schung in ganz erheblichem Ausmaß. Schon die cartesischen »Meditationen« operierten mit einer Vielzahl von Täuschungsargumenten, erst recht die Transzendentalphilosophie Kants. Aber wäh-rend noch Descartes hoffen durfte, die Lawine möglicher Täuschungen mit der Konstruktion der Selbstvergewisserung des cogito aufhalten zu können, entdeckte Fichte die Paradoxien des Selbstbewußtseins, das sich in seinem Spiegelbild nur erkennen kann, wenn es sich zuvor schon kennengelernt (und also gespiegelt) hat. Denn wer kann garantieren, daß ich wirklich bin, was ich im Akt der Selbstreflexion (der Spiegelung) für mich zu halten neige? Die ursprüngliche Synthesis des Selbstbewußtseins ist womöglich ebenso ungreifbar wie das berühmte »Spiegelstadium« Jacques Lacans. Anders gesagt: ein Ausbruch aus dem »Gefängnis des Imaginären«, aus den Labyrinthen der täuschenden Bilder und Simulacren (wie sie Jean Baudrillard oder Dietmar Kamper proklamieren), erscheint umso schwieriger, je mehr das Sehen als ein Erkennen bestimmt wird; und eine Theorie des Bewußtseins fällt umso leichter, je gründlicher eine analytische Sezession zwischen Sehen und Erkennen vollzogen wird.
Natürlich wurden die Bronzespiegel in der Antike zu den verschiedensten praktischen Zwecken benutzt, beispielsweise um Gesicht, Bart oder Haare zu pflegen. Die Frauen schminkten sich und legten ihre Garderoben an, während ihre Dienerinnen den Handspiegel hielten; gelegentlich wurde die Putzsucht verworfen oder ironisch kommentiert. Nur in eingeschränkter Hinsicht fungierten die antiken Spiegel als Medien der Selbstrepräsentation; sie wirkten tatsächlich nicht »reflexiv« in einem modernen, von Keplers Optik ableitbaren Sinn. Darum konnte beispielsweise Aristoteles – in seiner Schrift über die Träume – behaupten, wenn »Frauen während der Menstruation in ganz klare Spiegel schauen«, so erscheine »die Oberfläche des Spiegels als blutigroter Schimmer. Bei einem neuen Spiegel läßt sich diese Verfärbung nicht leicht abwaschen, leicht bei einem alten.« 9 Die aristotelische Suggestion ließe sich an zahlreichen weiteren Beispielen illustrieren; ich konzentriere mich hier aber nur auf drei Problemkreise: Spiegel und Waffe (1), am Beispiel der Perseus-Mythologie, Spiegel und Schatten (2), am Beispiel der Narziß-Erzählung, Spiegel, Tod und Wiedergeburt (3), an einem Beispiel aus der orphischen Dionysos-Mythologie.
1. Spiegel und Waffe: Perseus
Von einem Spiegel, mit dem es Perseus gelingt, der Medusa – die mit ihrem Blick bekanntlich versteinert, den Tod bringt 10 – das Haupt abzuschlagen, ist in den älteren Quellen gar keine Rede. In Hesiods »Theogonie« heißt es lediglich lapidar: »Als ihr Perseus das Haupt vom Rumpfe abschlug, entsprangen Pégasos draus, das Roß, und der mächtige Riese Chrysáor«. 11 Erst in Ovids »Metamorphosen« erzählt der Heros dagegen, er sei »auf ganz versteckten und entlegenen Pfaden, über von Waldgestrüpp starrende Felsen zum Hause der Gorgonen gelangt. Weit und breit auf Feldern und Wegen habe er Standbilder von Menschen und Tieren gesehen – der Anblick der Meduse habe sie in Stein verwandelt. Er selbst aber habe die Gestalt der furchtbaren Meduse im Erz des Schildes, den er in der Linken trug, im Spiegelbild geschaut. Während tiefer Schlummer sie und die Schlangen gefesselt hielt, habe er ihr das Haupt vom Halse getrennt. Dann seien Pegasus, der auf Flügeln entfloh, und dessen Bruder aus dem Blut der Mutter entstanden.« 12 Auf ähnliche Weise resümiert auch der Meeresgott Triton – in Lukians »Meergöttergesprächen« – die Geschichte. »Athena hielt ihm ihren Schild vor – so hab ich ihn wenigstens später die Sache dem Kepheus und der Andromeda erzählen hören. Athena also zeigte ihm in ihrem polierten Schilde das Bild der Medusa wie in einem Spiegel; und nun faßte er, die Augen auf das Abbild geheftet, die Gorgone mit der linken Hand bei den Haaren, und mit dem Säbel in seiner rechten hieb er ihr den Kopf ab und flog davon, ehe ihre Schwestern erwachten.« 13
Kein richtiger Spiegel wird also verwendet, sondern ein Schild aus Erz (vergleichbar dem Schild des Herakles, von dem Hesiod allerdings berichtet, er sei aus purem Gold gefertigt gewesen. 14 In diesem spiegelnden Schild wird der aktive, böse Blick der Medusa, ihr tödlicher Sehstrahl, gleichsam gebannt, abgelenkt und neutralisiert. Das Abbild der Medusa ist nicht mehr tödlich, was auch erklärt, warum die Griechen das Antlitz der Medusa, das Gorgoneion, so häufig darstellen konnten: etwa auf Tempelfriesen, Vasen, Tellern oder Schilden. Jede Darstellung der Medusa repetierte in gewisser Hinsicht das Geheimnis ihrer Überwindung, jenes Banns, den die Spiegelung des gorgonischen Sehstrahls erzeugt. Nicht umsonst war es diese Szene, die auch auf Vasenbildern oder etruskischen Spiegeln aus dem vierten bis zweiten vorchristlichen Jahrhundert geradezu stereotyp gezeigt wurde: Perseus steht bei Athena, die das abgeschlagene Medusenhaupt, das Gorgoneion, hochhält, während der Held dessen Spiegelbild in einem am Boden liegenden Schild oder einer Quelle betrachtet. 15 Die Blickrichtungen des Medusenhaupts und des Perseus stimmen auffällig nicht überein; sie bilden nahezu einen Winkel von neunzig Grad, was die potentielle Gefährlichkeit, die auch von dem abgeschlagenen Kopf ausgeht, noch unterstreicht. Immerhin verwendet Perseus das Gorgonenhaupt geradezu wie eine »Strahlenwaffe«, etwa im Kampf mit Phineus, den Ovid im fünften Buch der »Metamorphosen« schildert. »Doch als er sah, daß seine Tapferkeit der Übermacht unterlag, sprach Perseus: “Da ihr selbst mich dazu zwingt, will ich mir vom Feind Hilfe holen. Wendet euer Gesicht ab, ihr Freunde, wenn noch einer von euch da ist.” Und er enthüllte das Antlitz der Gorgo.« 16
Nach dem Einsatz dieser »Strahlenwaffe« findet sich Phineus unverhofft in einem Skulpturenpark wieder. »Er sieht Standbilder in verschiedenen Stellungen, erkennt die Seinen, ruft jeden beim Namen, bittet ihn um Hilfe, will seinen Augen nicht trauen und berührt die Männer, die unmittelbar neben ihm stehen. Sie waren Marmor«. 17 Er fleht um Gnade, die ihm – in anderer Form als erhofft – auch gewährt wird: »Was ich dir, du überängstlicher Phineus, verleihen kann und was ein großes Geschenk für eine Memme ist – keine Angst, ich will es dir verleihen. Kein Eisen soll dich verletzen! Ja, ich will dir sogar ein Denkmal setzen, das die Zeiten überdauert«. 18 Und prompt hält Perseus dem Feind das Gorgoneion vor die Augen, damit er sich in sein eigenes Denkmal verwandle. Die Kampfstrategie des Helden korrespondiert offensichtlich der wiederholten Darstellung des Medusenhaupts auf Vasen oder Tempeln; die ästhetische Affirmation des ungefährlichen Abbilds verweist auf das Urbild einer permanenten Produktion von Statuen und Denkmälern, die ebenfalls ästhetisch konnotiert werden kann, wie beispielsweise Menander in seinem »Menschenfeind« (von 316/17 v.Chr.) anzudeuten scheint: »Und hatte es der alte Perseus nicht gleich doppelt gut? Er hatte erst die Flügel, begegnet??? keinem, der auf Erden ging. Dann hatte er auch so ein Ding, womit zu Steinen er alle machte, die ihm lästig waren. Das möcht ich nun haben. Denn im Überfluß gäb es dann Statuen von Stein allüberall.« 19
2. Spiegel und Schatten: Narziß
Zu den beiden bedeutsamsten narrativen Komplexen, mit deren Hilfe in der Antike das Spiegelmotiv thematisiert und variiert wurde, gehört – neben der Perseus-Mythologie – die Erzählung von Narziß. Eine nochmalige Auseinandersetzung mit dieser Erzählung aus Ovids »Metamorphosen« ist auch darum so wichtig, weil sie eine Korrektur jüngerer Rezeptionsgeschichten – bis zu Freuds »Narzißmus«-Begriff – anregen könnte. Nach Maßgabe dieser Rezeptionsgeschichte scheitert und stirbt Narziß, weil er sich in sein Spiegelbild – und also in sich selbst – verliebt. Dagegen will ich zeigen, daß Ovids Verse eine andere Pointe verfolgen: die unselige Verirrung des Narziß besteht demnach nicht darin, daß er sich – in selbstreferentieller Reflexionsbeziehung – in sich selbst verliebt, sondern daß er einem körperlosen Trugbild seine leidenschaftliche Zuneigung schenkt. So heißt es nicht umsonst: »Und während er den Durst zu stillen trachtete, wuchs in ihm ein anderer Durst. Während er trinkt, erblickt er das Spiegelbild seiner Schönheit, wird von ihr hingerissen, liebt eine körperlose Hoffnung, hält das für einen Körper, was nur Welle ist. Er bestaunt sich selbst und verharrt unbeweglich mit unveränderter Miene wie ein Standbild aus parischem Marmor.« 20 Die gleichsam gorgonische Versteinerung (zugleich eine unabdingbare Voraussetzung jedes Versuchs, sich im Wasser zu spiegeln) verdankt sich einem Irrtum, einer Wahrnehmungstäuschung, die obendrein einen ontologischen Kategorienfehler impliziert – nämlich für einen Körper zu halten, was nicht einmal Abbild (wie die Marmorstatue), sondern nur ein Trugbild ist. Zu Recht erinnert Deleuze an die platonische Unterscheidung der Bildtypen: »Die Abbilder sind Besitzer zweiten Ranges, wohlbegründete Bewerber, durch die Ähnlichkeit bestätigt; die Trugbilder sind die falschen Bewerber, die auf einer Ungleichartigkeit beruhen, eine wesentliche Perversion, eine Umlenkung implizieren. In diesem Sinne zweiteilt Platon den Bereich der Bilder-Idole: einerseits die Ebenbilder-Ikonen, andererseits die Trugbilder-Phantasmen. … Es geht darum, für den Sieg der Abbilder, der Ebenbilder über die Trugbilder zu sorgen, die Trugbilder zu verdrängen, sie im Grund angekettet zu halten, sie am Aufstieg an die Oberfläche zu hindern, daran, sich überall “einzuschleichen”.« 21
Ganz offenkundig verstrickt sich Narziß in eine Liebesbeziehung zu einem solchen Trugbild, wobei er zunächst einmal – wohl auch aufgrund mangelnder Erfahrungen mit dem eigenen Spiegelbild – gar nicht bemerkt, daß dieses Trugbild ihm ähnlich sieht. »Am Boden liegend, betrachtet er seine Augen – sie gleichen einem Sternenpaar -, das Haar, das eines Bacchus oder eines Apollo würdig wäre, die bartlosen Wangen, den Hals wie aus Elfenbein, die Anmut des Gesichts, die Mischung von Schneeweiß und Rot – und alles bewundert er, was ihn selbst bewundernswert macht. Nichts ahnend begehrt er sich selbst, empfindet und erregt Wohlgefallen, wirbt und wird umworben, entzündet Liebesglut und wird zugleich von ihr verzehrt. Wie oft gab er dem trügerischen Quell vergebliche Küsse! Wie oft tauchte er, um den Hals, den er sah, zu erhaschen, die Arme mitten ins Wasser und konnte sich nicht darin ergreifen! Er weiß nicht, was er sieht quid videat, nescit; doch was er sieht, setzt ihn in Flammen. Und seine Augen reizt dasselbe Trugbild error, das sie täuscht. Leichtgläubiger! Was greifst du vergeblich nach dem flüchtigen Bild simulacra fugacia! Was du erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich abwendest. Was du siehst, ist nur Schatten, nur Spiegelbild cernis, imaginis umbra. Es hat kein eigenes Wesen: Mit dir kam es, mit dir wird es fortgehen – wenn du nur fortgehen könntest!« 22 Erst dreißig Verszeilen später erfolgt die Aufklärung des Irrtums; Narziß erkennt: »Ich bin es selbst iste ego sum! Ich habe es begriffen, und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide. Was tun? Bitten oder mich erbitten lassen? Worum soll ich denn bitten? Was ich begehre, ist bei mir. Der Reichtum hat mich arm gemacht inopem me copia fecit.« 23 Das Begehren des Narziß verwandelt sich in einen Todeswunsch; darin manifestiert sich gleichsam das böse Gift des Trugbilds. »Könnte ich mich doch von meinem Körper lösen o utinam a nostro secedere corpore possem! Ein neuartiger Wunsch bei einem Liebenden: Ich wollte, der Gegenstand meiner Liebe wäre nicht bei mir!« 24 Wer ein Trugbild begehrt, verliert sich an eine körper- und wesenlose Erscheinung; er kann nur noch seinen Tod – die Trennung vom eigenen Körper – wünschen. Ergriffen wird er nicht von der »Jubilatorik« irgendeines »Spiegelstadiums«, sondern lediglich von der Sehnsucht, selbst ein Trugbild zu werden. Narziß stirbt und verwandelt sich in eine Blume; doch noch in der Unterwelt kann er nicht aufhören, sich im Wasser der Styx zu betrachten.25
Bemerkenswert sind manche antiken Darstellungen des Narziß, beispielsweise die fünfundvierzig Wandbilder aus Pompeji, die den Selbstverliebten mit seinem Spiegelbild zeigen. Auf den meisten Bildern blickt Narziß nämlich gar nicht auf die Oberfläche des Wassers, in der sein Spiegelbild erscheint; er sieht gleichsam verträumt in die Ferne, an einem potentiellen Gegenüber des Bildes vorbei. 26 Obwohl Narziß stets aufrecht, mit seinem ganzen Körper, dargestellt wird, spiegelt sich im Wasser – wie im Gorgonenschild – nur sein Gesicht; auch Ovid beschreibt lediglich Kopf und Hals. Das Spiegelbild zeigt nicht den ganzen Körper, es wirft zumeist nicht einmal den Blick zurück: als würde sich das Format eines Handspiegels im Wasser reproduzieren. Das (neronische) Stuckrelief aus dem Bad einer Villa in Petraro-Stabiae 27 porträtiert einen Jüngling in zurückgelehnter Haltung, der am felsigen Ufer eines Gewässers sitzt. »Den Zipfel seines über den Rücken fallenden Mantels zieht er mit der Rechten hoch. Unter ihm spiegelt sich sein bekränztes Haupt im Wasser.« 28 Diese Spiegelung wird aber gar nicht registriert, ebensowenig wie auf einem Mosaik aus Antiochia. 29 Offenbar demonstrieren die antiken Narziß-Darstellungen keine sichtbare Selbstbeziehung, keine visuelle »Verdoppelung«. Narziß ist selten allein. In den meisten Fällen steht zumindest Eros – oder eine Nymphe – neben ihm. Die Anwesenheit einer dritten Person fügt sich jedoch nicht den zeitgenössischen Vorstellungen vom »Narziß« als einem Menschen, der nur mit sich selbst befaßt ist. Noch als pure Allegorie bezeugt Eros, daß die Geschichte von der tödlichen Verirrung des Jünglings kommentarbedürftig bleibt. Sie erschließt sich nicht allein aus der ephemeren Erscheinung des Trugbilds im Wasser.
3. Spiegel, Tod und Wiedergeburt: Dionysos
Narziß sieht sich – im Trugbild der Wasseroberfläche – als den Toten, die larva, die er wenig später zu werden begehrt: »o utinam a nostro secedere corpore possem«. Noch im europäischen Volksglauben der frühen Neuzeit war die Vorstellung verbreitet, wer im Traum in einen Spiegel blicke – oder gar seinem »Doppelgänger« begegne – müsse bald sterben. 30 In Gegenwart sterbender Menschen, erst recht nach Eintritt des Todes, mußten die Spiegel im Sterbehaus verhängt werden, um nicht versehentlich die scheidende Seele »zurückzuhalten« oder wieder »einzufangen«; 31 und schon in einem anonymen Flötenlied aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert hieß es: »Wenn du Tote erblickst, vorbeigehst an schweigenden Gräbern, siehst du im Spiegel dich selbst; so bangte dereinst auch der Tote. Leihgabe ist die Zeit – unerbittlich, wer Leben dir auslieh; will er zurück es erhalten von dir, so gib es, in Tränen.« 32 Spiegelbilder sind mit den Schatten im Hades verwandt; aber sie können auch das Leben bannen – so wie den Blick. Von Persephone, der Herrin des Totenreichs, erzählt der griechische Dichter Nonnos (aus dem ägyptischen Panopolis): »Einstmals erfreute das Mädchen sich eines bronzenen Spiegels, der ihr die eigene Schönheit verriet. Durch den schweigsamen Herold lernte sie zuverlässig ihr liebliches Aussehen kennen, konnte im schattenwerfenden Spiegel ihr Trugbild erfassen, auch in das Antlitz ihm lachen. Und Persephoneia beschaute kritisch genau das Bildnis, das ohne ihr Zutun sich zeigte, hatte vor Augen sich selber, ein Werk von täuschender Echtheit.« 33
Nach der orphischen Weltgeschichte wurde Dionysos, kurz nach der Geburt durch Persephone, die Tochter der Rhea und Gemahlin des Hades, in seiner Geburtshöhle als »König der Welt« inthronisiert. »Geburt und Inthronisation werden auf einer Elfenbeinpyxis in Bologna als zwei nacheinander folgende Szenen in einer Reihe von vier dargestellt. Die Pyxis ist nicht vor dem 5. Jahrhundert n. Chr. verfertigt worden, doch sie faßt den damals noch schriftlich vorhandenen und bekannten orphischen Mythos höchst eindrücklich zusammen. Der Mutter, die auf einem Gebärbett sitzt, nicht wie die sterbende Semele, wird das Kind durch eine Amme abgenommen. Eine zweite Amme steht auch da, und die dritte hält einen Spiegel dem Kind hin, das in der anschließenden Szene schon auf dem Thron sitzt. Hinter ihm ist die Felswand der Höhle deutlich sichtbar. Der nackte Knabe hebt seine beiden Hände, als sagte er entzückt: “Hier bin ich!” Neben ihm sieht man zwei bewaffnete Kureten: Der eine führt einen Waffentanz auf. Daran nahm auch der andere teil, der jetzt sein Messer zückt. Das Kind soll, während es sich im Spiegel schaut, erdolcht werden.« 34 Nonnos hat zu dieser Darstellung auf der Schatulle gleichsam den Text verfaßt. Im sechsten Buch der »Dionysica« beschreibt er die Geburt des Zagreus durch Persephone: »Den gehörnten Zagreus gebar sie. Aus eigenen Kräften klomm er empor zum himmlischen Throne des Zeus, in der kleinen Faust schon schwang er den Blitzstrahl. Eben erst war er geboren, aber er trug in den kindlichen Händen die Keile des Donners. Freilich behauptete er den Zeusthron nicht lange. Gestachelt von dem in-grimmigen Zorn der unversöhnlichen Hera, schmierten voll List die Titanen sich Kalk zur Tarnung auf ihre runden Gesichter, und während sich Zagreus im Spiegel beschaute, hieben sie ihn mit einer Tartarosklinge in Stücke. Zagreus beschloß sein Leben, zerfleischt vom Schwert der Titanen, aber begann als Dionysos gleich aufs neue zu atmen«. 35
Die Zerstückelung des Körpers wird vom Blick in den Handspiegel vorweggenommen; der Spiegel verheißt und begleitet die Tötung des göttlichen Kindes. »Was die mit Gips bestrichenen Gesichter bedeuten, erhellt aus dem orphischen Hymnus an die Titanen, der sie als Ahnengeister und Gespenster beschwört, und aus einem Vers des Dichters Euphorion vom “totengleichen weißen Gesicht” einer mythologischen oder rituellen Person. Wir kennen eine ähnliche Kriegslist der Bewohner der Landschaft Phokis aus archaischer Zeit. Sie bestrichen ihre Gesichter mit Gips, und so überfielen sie in der Nacht – bei Vollmond, wie einige Quellen noch hinzufügen – ihre Feinde. Diese vermuteten in der Erscheinung ein Totenheer und wurden im ersten Schreck besiegt. Die Ähnlichkeit mit dem Verfahren der Titanen ist augenfällig. Es ist wahrscheinlich, daß der Gedanke zur Kriegslist einem archaischen Einweihungsritual entnommen wurde, in dem die Initiatoren dem einzuweihenden Knaben als Ahnengeister erschienen sind und ihn scheinbar töteten. Angaben über den Gips als Initiationsmittel und ein Wortspiel mit titanos, “Kalk”, und titan, “Titan”, sind überliefert.« 36 Der Spiegel der Amme fungiert dagegen als Medium der Inszenierung des Todes und der Wiedergeburt des Gottes; einerseits dokumentiert er die Gefährlichkeit, ja die Tödlichkeit des Blicks auf sich selbst (darin der Narziß-Erzählung Ovids verwandt), andererseits wirkt er als »Speicher«, indem er die entfliehende Seele des zerstückelten Zagreus-Kindes auffängt und dessen Wiedergeburt als Dionysos ermöglicht. Daß der Spiegel ein unverzichtbares Requisit der Szene darstellt, betont übrigens auch Nonnos, wenn er – wenige Verse später – bemerkt: »Nach der Ermordung des ersten Dionysos brachte auch Vater Zeus in Erfahrung, wie listig ein Spiegel das Abbild zurückwirft, sengte zur Strafe darauf die Titanenmutter mit Feuer«. 37 Diese »List des Spiegels« opponiert nicht nur dem Göttervater, sondern – wie sich mittlerweile beinahe von selbst versteht – der modernen Optik und den mit ihr verschwisterten Metaphern der Reflexion und Selbstrepräsentation.
1 | Gérard Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Übersetzt von Heinz Jatho. München: Wilhelm Fink 1992. Seite 232
2 | Vgl. Michel Serres: Gnomon: Die Anfänge der Geometrie in Griechenland. In: Michel Serres (Hrsg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Übersetzt von Horst Brühmann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994. Seite 109-175.
3 | Vgl. die Darstellung der Route dieses Feuersignals in der ersten Hauptszene des Dramas »Agamemnon« von Aischylos. In: Aischylos: Die Perser – Die Orestie. Übersetzt und erläutert von Ernst Buschor. Zürich/München: Artemis 1979. Seite 94 f.
4 | Vgl. Charles Panati: Universalgeschichte der ganz gewöhnlichen Dinge. Übersetzt von Udo Rennert. Frank-furt/Main: Eichborn 1994. Seite 245.
5 | Vgl. zur Geschichte der magischen Spiegel Jurgis Baltruaitis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Gießen: Anabas 1996. Seite 207-245.
6 | Vgl. David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Übersetzt von Matthias Althoff. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987.
7 | Zitiert nach: Johannes Kepler: Der Vorgang des Sehens. Übersetzt von Ferdinand Plehn. In: Ralf Konersmann (Hrsg.): Kritik des Sehens. Leipzig: Reclam 1997. Seite 105.
8 | Ebda. Seite 105 f.: »Denn das Rüstzeug der Optiker reicht nicht weiter als bis an diese dunkle Wand, die als erste im Auge auftritt. Ich glaube nämlich nicht, … diese Lichtbilder wanderten weiter durch den Nerv, bis sie auf halbem Wege in einer Art Vereinigung der beiden Sehnerven zusammenkämen, um wieder getrennt nach den jedem zukommenden Hohlräumen des Gehirns zu gehen. Denn was könnte man mittels optischer Gesetze über jenen so geheimnisvollen Verkehrsweg vorbringen, der durch undurchsichtige und deshalb dunkle Teile geht, der durch geistige Stoffe vermittelt wird, die in jeder Hinsicht von Feuchtigkeiten und anderen durchsichtigen Dingen verschieden sind, und der sich deshalb den optischen Gesetzen vollständig entzieht.«
9 | Aristoteles: Über Träume II. In: Kleine naturwissenschaftliche Schriften Parva Naturalia. Herausgegeben und übersetzt von Eugen Dönt. Stuttgart: Reclam 1997. Seite 121.
10 | Vgl. Jean-Pierre Vernant: Tod in den Augen. Figuren des Anderen im griechischen Altertum: Artemis und Gorgo. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt/Main: Fischer Wissenschaft 1988
11 | Hesiod: Theogonie. In: Werke in einem Band. Übersetzt von Luise und Klaus Hallof. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1994. Seite 14.
12 | P. Ovidius Naso: Metamorphosen IV,778-789. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 1994. Seite 229.
13 | Lukian: Gespräche der Götter und Meergötter, der Toten und der Hetären. Übersetzt und herausgegeben von Otto Seel. Stuttgart: Reclam 1967. Seite 83.
14 | Hesiod: Der Schild des Herakles. In: Werke in einem Band. A.a.O. Seite 156.
15 | Vgl. die Bildtafeln 15,16, 17, 19, 20 und 21 in Lilian Balensiefen: Die Bedeutung des Spiegelbildes als ikonographisches Motiv in der antiken Kunst. Tübinger Studien zur Archäologie und Kunstgeschichte. Band 10. Tübingen: Wasmuth 1990.
16 | P. Ovidius Naso: Metamorphosen V,177-181. A.a.O. Seite 245.
17 | P. Ovidius Naso: Metamorphosen V,211-215. Ebda. Seite 247.
18 | Ebd.
19 | Menander: Der Menschenfeind. In: Menander / Herondas: Werke in einem Band. Übersetzt von Kurt und Ursula Treu. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1980. Seite 12.
20 | P. Ovidius Naso: Metamorphosen III,416-419. A.a.O. Seite 153.
21 | Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Übersetzt von Bernhard Dieckmann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Seite 314.
22 | P. Ovidius Naso: Metamorphosen III,420-434. A.a.O. Seite 153-155.
23 | Vgl. P. Ovidius Naso: Metamorphosen III,463-466. Ebda. Seite 157.
24 | Ebd.
25 | P. Ovidius Naso: Metamorphosen III,504-505. Ebda. Seite 159.
26 | Vgl. die Bildtafeln 28, 29, 30, 31, 32 und 34 in Lilian Balensiefen: Die Bedeutung des Spiegelbildes als ikonographisches Motiv in der antiken Kunst. A.a.O.
27 | Ebd.
28 | Ebda. Seite 238.
29 | Vgl. die Bildtafel 38,1. Ebda.
30 | Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band IX. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1987 Reprint. Spalte 559.
31 | Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band VIII. Berlin/Nw York: Walter de Gruyter 1987 Reprint. Spalte 981.
32 | Lied zur Flöte. In: Griechische Lyrik in einem Band. Herausgegeben und übersetzt von Dietrich Ebener. Berlin/Weimar:Aufbau-Verlag 1980. Seite 431.
33 | Nonnos: Leben und Taten des Dionysos. In: Werke. Band I. Herausgegeben und übersetzt von Dietrich Ebener. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1985. Seite 95.
34 | Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens. Stuttgart: Klett-Cotta 1994. Seite 165 f.
35 | Nonnos: Leben und Taten des Dionysos. A.a.O. Seite 101.
36 | Karl Kerényi: Dionysos. A.a.O. Seite 167.
37 | Nonnos: Leben und Taten des Dionysos. A.a.O. Seite 102.