Wenn Sie auf diesen Text verweisen möchten: Sigrun Anselm/Caroline Neubaur (Hrsg.): Talismane. Klaus Heinrich zum 70. Geburtstag, Basel/Frankfurt/ Main (Strœmfeld/Roter Stern) 1998, 267-284; sowie geringfügig bearbeitet in: Alfred Schäfer/Michael Wimmer (Hrsg.): Rituale und Ritualisierungen. Reihe »Grenzüberschreitungen« Band 1, Opladen (Leske + Budrich) 1998, 193-208.
Überlegungen zur Faszinationsgeschichte1 nationaler Feiertage setzen eine Beschäftigung mit dem Zeitalter der Konstitution und psychosozialen Grundlegung europäischer Nationalstaaten voraus. Der Problemhorizont dieser Epoche läßt sich an einer Frage thematisieren, die seit damals aufgeworfen – und neuerdings unter aktuellen Rahmenbedingungen der sogenannten europäischen Einigung wieder verhandelt wird: der Frage nämlich nach den kulturellen Techniken, die angewendet werden müssen, um eine steigende Menschenzahl – etwa die Gesamtheit der Einwohner einer Metropole, einer Region oder eines politisch regierten Territoriums – mit verbindlichen Idealen von einer gemeinsamen Identität, Sprache, Geschichte oder Zukunft auszurüsten und vertraut zu machen. Wie können Menschen in wenigen Jahren und Jahrzehnten auf eine neue, komplexe und daher unsinnliche Organisationsform vorbereitet und eingeschworen werden? Mit welchen Symbolen, Mythen, Kulten, Inszenierungen, Denkmälern, Briefmarken, Wappen, Hymnen, Fahnen, Münzen oder Ornamenten läßt sich plausibel machen, daß nun eben die Europäer – so wie zuvor die Franzosen, Engländer, Holländer, Spanier, Deutschen oder Italiener – den Operationsraum der Weltgeschichte betreten, und ihre wirtschaftlichen Triumphe und Expansionen, ihre verteidigungspolitischen Erfolge und – nach wie vor blutigen – Siege erstreiten sollen?
Zu Recht betont Elias Canetti in “Masse und Macht”, es sei notwendig, die Nationen als “Religionen” anzusehen. Niemand sei bereit, sein Leben für eine Landkarte, für ein Wörterbuch oder für eine historische Chronik zu riskieren; das Nationalgefühl entspringe vielmehr einer kollektiv geteilten Topik, einem “Massensymbol”. Solche Massensymbole können beispielsweise als Räume und Orte erscheinen: als das Meer der Engländer, als der Wald der Deutschen, als die Berge der Schweizer; sie können aber auch als zeitliche Bestimmungen auftreten: als Feiertage und Feste, als wiederkehrende Daten und Jubiläen. “Der Engländer sah sich gern auf dem Meer; der Deutsche sah sich gern im Wald; knapper ist, was sie in ihrem nationalen Gefühl trennte, schwerlich auszudrücken. Das Massensymbol der Franzosen hat eine junge Geschichte: es ist ihre Revolution. Das Fest der Freiheit wird jährlich gefeiert. Es ist das eigentliche nationale Freudenfest geworden. Am 14. Juli kann jeder mit jedem auf der Straße tanzen. Menschen, die sonst genau so wenig frei, gleich und brüderlich sind wie in anderen Ländern, können sich einmal so geben, als ob sie es wären.” 2 Spätestens seither werden solche und ähnliche Feste der Freiheit an verschiedenen Orten der Welt und zu verschiedenen Zeiten gefeiert; dabei wirft sich die Leitfrage der folgenden Überlegungen auf, wie sich die Beziehungen zwischen diesen Festen und den jubiläumskonstitutiven Kalenderdaten konstruieren lassen.
Tag der Landung
Den Ausgangspunkt bildet ein Buch, dessen Faszinationskraft seit bald drei Jahrhunderten ein immer noch anwachsendes Publikum erfaßt. Wenige Bücher gibt es wohl, die seit ihrem Erscheinungstag – dem 25. April 1719 – so zahlreiche Varianten und Kommentare in so vielen verschiedenen Disziplinen – von der Literaturwissenschaft bis zur Ökonomie, von der Geschichtswissenschaft bis zur Philosophie, von der Kulturanthropologie bis zur Pädagogik -provoziert haben 3 wie jener Text, von dem Jean-Jacques Rousseau behauptete, seine Lektüre werde uns – wie keine Schrift von Aristoteles, Plinius oder Buffon – “immer Freude machen” und als “Maßstab unserer Urteilsfähigkeit” dienen; 4 das Alterswerk eines parteipuritanischen Journalisten und gescheiterten Geschäftsmannes, der am 26. April 1731 im selbstgewählten Versteck zugrundeging; ein Text, den wohl die meisten Europäer und Nordamerikaner irgendwann einmal in ihrer Kindheit – wenngleich gewiß nicht in derselben Fassung – gelesen haben: Daniel Defoes Roman “Robinson Crusoe”. Dieser Roman erzählt bekanntlich von einem Schiffbruch, von den Konsequenzen einer schicksalhaften Landung auf einer unbewohnten Insel, die dem wenig frommen Jüngling Robinson Kreutznaer aus York, nur “durch das gewöhnliche Verderben der Wörter in England” 5 Crusoe genannt, zustößt, und als eine Art von Purgatorium aufgezwungen wird. Der buchstäblich isolierte Robinson bewährt sich in der Wildnis, indem er sie kultiviert und in sein eigenes Herrschaftsgebiet verwandelt; nach den Maßstäben puritanischer wilderness-Mythologie und alttestamentarisch legitimierter Expansionspraxis (beispielhaft dokumentiert in Cotton Mathers “Magnalia Christi Americana” von 1702) erscheint die Katastrophe schon bald als eine Landnahme: Robinson errichtet, wie ein Ritter im Kampf um das Heilige Grab, wie ein Missionar in der Neuen Welt, oder wie ein Bergsteiger auf bisher unbezwungenem Gipfel, ein Kreuz – und damit eine Zeitordnung, die Zeitordnung des christlichen Kalenders. “Nachdem ich zehn oder zwölf Tage hier gewesen war, fiel mir ein, ich möchte aus Mangel an Papier, Feder und Tinte jede Zeitrechnung verlieren und endlich den Sonntag nicht mehr vom Werktag unterscheiden können. Dies zu verhüten, schnitt ich in großen Buchstaben mit meinem Messer in einen dicken Pfahl: “Hier an Land gekommen den 30. September 1659″, zimmerte ein großes Kreuz daraus und stellte es am Ufer dort auf, wo ich zuerst gelandet war. An den Seiten des viereckigen Pfahls schnitt ich täglich mit meinem Messer eine Kerbe ein, und jede siebente Kerbe war zweimal so lang wie die anderen, und die Kerbe für jeden ersten Tag eines Monats war doppelt so lang wie die Sonntagskerbe. So führte ich meinen Kalender oder meine wöchentliche, monatliche und jährliche Zeitrechnung.” (89) Wer ein Kreuz und einen Kalender besitzt, kann – nachdem er endlich Tinte, Feder und Papier aus dem Wrack des gesunkenen Schiffes geborgen hat – ein Tagebuch führen; mit Robinsons Aufzeichnungen beginnt die Geschichte der empirischen Isolationsforschung.
Der erste Eintrag Robinsons trägt selbstverständlich das Landungsdatum: 30. September 1659; der Tonfall dieses Eintrags erinnert abermals an einen Akt territorialer Besitzergreifung. “30. September 1659. Ich, der arme, unglückliche Robinson Crusoe, habe während eines fürchterlichen Sturmes auf hoher See Schiffbruch erlitten und wurde an die Küste dieses trostlosen, unglückseligen Eilandes verschlagen, das ich die “Insel der Verzweiflung” getauft habe. Ich bin als einziger von der ganzen Schiffsbesatzung dem Ertrinken entronnen, wäre aber auch selber fast umgekommen.” (97) Ich wette, nicht viele Überlebende einer solchen Tragödie würden auch nur einen einzigen Gedanken an die Taufe ihres Unfallorts verschwenden! Das Bild des tapferen Eroberers, des heroischen Pilgers auf dem Exodus in ein Gelobtes Land, überlagert die Erscheinung des “armen, unglücklichen” Mannes aus York.
Robinson führt also Tagebuch, – offenbar um seinen prospektiven Lesern zu demonstrieren, wie sich auch und gerade auf einer unbewohnten Insel ein frommes Alltagsleben führen läßt: und zwar im Einklang mit dem christlichen Kalender, der ja nach Maßgabe der Kerben auf dem Kreuzpfosten eine Unterscheidung zwischen den Fest- und Werktagen erlauben soll. Zu allgemeinem Erstaunen findet sich jedoch unter den nachfolgenden Einträgen kein einziger Hinweis auf eine solche zeitliche Differenzierung. Robinson ist jeden Tag fleißig, er protokolliert keine Pausen oder feierlichen Augenblicke. Zu den Weihnachtstagen wird an Tinte auffällig gespart; eine Frist der Muße wird lediglich durch schlechtes Wetter erzwungen: “24. Dezember. Viel Regen die ganze Nacht und den ganzen Tag; konnte nicht hinausgehen. 25. Dezember. Den ganzen Tag Regen.” (103) Ein Weihnachtsfest wird nicht gefeiert; offenbar fühlt sich der Gestrandete an das Weihnachtsverbot des puritanischen Parlaments – gültig in den Jahren 1647 bis 1660 6 – gebunden. “Den ganzen Tag Regen”. So lautet jedenfalls die kürzeste Eintragung des gesamten Tagebuchs. Und während auf den nächsten Seiten detaillierte Schilderungen irgendwelcher Unternehmungen notiert werden, Berichte von Erfolg oder Mißerfolg, Krankheit und Genesung, selbst allerlei Reflexionen über die Bibel und Gottes höheren Plan, – findet sich erst spät ein Hinweis auf eine zeremonielle, quasi sakrale Unterbrechung der alltäglichen Routine: “30. September. Heute jährte sich der Unglückstag meiner Landung. Ich zählte die Kerben an meinem Pfosten zusammen und fand, daß ich dreihundertfünfundsechzig Tage am Lande war. An diesem Tag hielt ich einen strengen Fasttag und wählte ihn aus zu frommen Übungen. Ich warf mich in tiefster Demut zur Erde nieder, beichtete Gott meine Sünden, erkannte sein gerechtes Gericht über mich und flehte ihn an, mir Gnade zu erweisen durch Jesum Christum; und da ich zwölf Stunden, bis nach Sonnenuntergang, keinen Bissen zu mir genommen hatte, aß ich jetzt einen Zwieback und einen Bund Trauben, ging zu Bett und beschloß so den Tag, wie ich ihn angefangen hatte.”
Erst jetzt erfahren wir auch, warum Robinson keinen Sonntag notiert hatte. Denn gegen die zunächst bekundete Absicht der Kalenderrechnung wurde die Sonntagskerbe bald – in seltsamer Antizipation des französischen Revolutionskalenders – verweigert. “Ich hatte die ganze Zeit über keinen Sonntag gehalten, denn da ich zuerst keine Gottesfurcht im Herzen hegte, hatte ich es nach einiger Zeit unterlassen, die Wochen durch eine längere Kerbe für den Sonntag voneinander zu trennen, und ich wußte demnach selbst nicht mehr genau, was gestern oder heute für ein Wochentag sei; jetzt aber, da ich, wie oben bemerkt, die Kerben zusammenzählte, kam ein Jahr heraus. Dieses teilte ich in Wochen und setzte jeden siebenten Tag einen Sonntag. Am Ende meiner Rechnung fand ich allerdings, daß ich mich um einen Tag oder zwei vertan hatte.” (144-145)
Die nachträgliche Revision des Kalenders bewirkt freilich keine Änderung der erprobten Praxis. Robinson will auch als zunehmend bibelfrommer und gebetsfreudiger Insulaner keinen Sonntagsdienst zelebrieren; stattdessen entwirft er – wiederum in Vorwegnahme des Revolutionskalenders von 1792 – eine Charakterisierung der alten Monate durch die neuen Jahreszeiten auf seiner Insel (148) – und feiert abermals das “Landungsjubiläum”: “Nun war die regnerische Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche gekommen, und ich beging den 30. September in derselben feierlichen Art wie früher, da es der Jahrestag meiner Landung auf der Insel war, auf der ich, mit ebensowenig Aussicht auf Befreiung wie am ersten Tag, nunmehr schon zwei ganze Jahre lebte. Ich verbrachte den ganzen Tag in demütiger und dankbarer Betrachtung der vielen wunderbaren Gnadenbezeugungen, mit denen ich in meiner Einsamkeit bedacht worden und ohne die ich tausendmal elender gewesen wäre. Ich dankte Gott demütig und aus ganzem Herzen, daß er mich gelehrt hatte, in der Einsamkeit glücklicher zu sein als umgeben von Menschen und mitten in den Freuden der Welt”.(156)
Die einmal etablierte Praxis wird fortgesetzt. Jenseits von Kirchenfesten, jenseits von allen Sonn-, Feier- oder Weihnachtstagen, begeht Robinson den privaten (und doch verbindlichen) Festtag. Die rituelle Erinnerung des Landungstages, des Jubiläums der “Landnahme”, gerät ihm zur neuen, selbstverständlichen Pflicht. Während der schwierigen Arbeit an einem Kanal geht sein “viertes Jahr auf der Insel zu Ende”, und Robinson zelebriert “den Jahrestag mit der üblichen Andacht und Erhebung”. Er feiert den Tag der Landung – diesen Festtag einer territorialen Besitzergreifung – als den Tag seiner individuellen Prüfung und Erlösung, einer geradezu gnostisch ausgemalten Erlösung von der Welt. Denn “durch das fortgesetzte Studium und die ernsthafte Betrachtung von Gottes Wort sowie durch den Beistand seiner Gnade war ich zu einer ganz anderen Erkenntnis gelangt als früher. Ich hatte von den Dingen einen anderen Begriff und blickte nun auf die Welt als einen weit entfernten Gegenstand, mit dem mich nichts verband, weder Hoffnung noch Begierde; mit einem Wort, ich hatte nichts zu tun mit ihr, noch würde ich jemals wieder etwas mit ihr zu tun haben.” Freilich kann selbst die Schilderung solcher Distanz nicht ohne Verweis auf den biblischen Exodus auskommen: die Welt erscheint Robinson wie ein “Ort, an dem wir gewohnt haben, von dem wir aber ausgezogen sind”. (175) Anders gesagt: die Welt, das ist Ägypten mit seinen Fleischtöpfen, die “Insel der Verzweiflung” dagegen entpuppt sich als das “Gelobte Land”, das Robinson in Besitz genommen hat.
Magie des Geburtstags
Pointiert gesagt: Robinson Crusoe “erfindet” gleichsam den Nationalfeiertag. Der 30. September 1659 ist der Prototyp des 4. Juli 1776 oder des 14. Juli 1789. Diese Daten sind ähnlich kontingent wie der Tag der Strandung Robinsons. Sie fungieren als Elemente nationaler Identität – als “Massensymbole” im Sinne Canettis. Als Nationalfeiertage verkörpern sie das Phantasma geteilter Zugehörigkeit, gleichsam einen kollektiven “Landungstag”. Nationalität wird als “Ankunft” inszeniert, als das Ideal eines gemeinsamen Anfangs – etwa der Verabschiedung einer “Unabhängigkeitserklärung”, des revolutionären Umsturzes, oder der Ankunft in einer Neuen Welt. Aber so wie Robinson seine Ankunft auf der Insel mit einem Exodus aus der Welt überhaupt – also eigentlich mit Tod und Auferstehung – assoziieren kann, so verführt der Nationalfeiertag zur Hypostasierung eines geteilten Ursprungs, der gemeinsamen Ankunft in der Welt überhaupt: einer phantasmatischen Geburt des Gesellschaftskörpers. Nicht umsonst werden Nationalfeiertage bis heute gern als “Natalfeiertage” zelebriert; 7 während jedoch die Veranstaltung von Herrschergeburtstagen in der Antike niemals allein zur Identifaktion mit der Regierung beitragen sollte, sondern immer auch zur Erinnerung an das Ordnungsprinzip der genealogischen Differenzierung, wird nunmehr das Traumbild des gemeinsamen Ursprungs inszeniert – beispielsweise in der niederländischen oder englischen Praxis, den Geburtstag der Königin (den “Königinnentag”) als Nationalfeiertag zu begehen – während das katholische Spanien nach wie vor den Namenstag des Königs zum nationalen Festtag zu erheben pflegt. Auch in dieser Hinsicht bildet der 30. September Robinsons ein exemplarisches Datum; einerseits ist ihm der Schicksalstag buchstäblich zugefallen, er hat ihn sich ebensowenig ausgesucht wie die Insel, an deren Strand er geworfen wurde; andererseits jedoch gelingt es ihm, just dieses Datum zum Jubiläum der Landnahme, zum Festtag der Errettung – gleichsam zum Memorial Day einer nationalen “Wiedergeburt” – zu erheben. Der 30. September ist ein Geburtstag und ein Nationalfeiertag zugleich. Als hätte er das spekulative Band zwischen diesen beiden Tagen gespürt, diese Brücke kultureller Konstruktion, die auf jede Frage nach kontingenten Ereignissen mit der Behauptung von Zugehörigkeiten antwortet, so läßt Defoe seinen Robinson – ebenso unverhofft wie dramaturgisch unpassend spät – entdecken, daß er an einem 30. September nicht nur an Land gespült, sondern auch tatsächlich geboren wurde (wobei sich Robinson neuerlich in der Zeitrechnung irrt, und zwar gleich um ein ganzes Jahr: 27 Jahre mußten nämlich vergehen, bis er an die Inselküste geschleudert wurde). “Am gleichen Tag des Jahres, an dem ich geboren wurde, nämlich dem 30. September, wurde sechsundzwanzig Jahre später mein Leben so wunderbar gerettet, als ich an diese Insel verschlagen wurde, so daß mein gottloses wie auch mein einsames Leben beide am gleichen Tag anfingen.” (181)
Erst jetzt erfahren wir also, daß Robinson am 30. September nicht nur den Tag seiner Landung auf der Insel, sondern auch den Tag seiner “Landung in der Welt”, den Tag seiner Geburt, feiert. Der Geburtstag des buchstäblichen “Monarchen” avanciert zum Nationalfeiertag “seiner” Insel: der 30. September beginnt als Robinsons nationales Identitätsprinzip zu reüssieren, als sein territorialer “Eigenname”. Nur so kann der Einsame auch auf die Idee verfallen, sein “Alter Ego”, nach dem Wochentag der Errettung des “edlen Wilden” vor den Kochtöpfen der bösen Kannibalen (von deren Abschlachtung Robinson gerne träumt, 225) zu benennen: Freitag. “Als erstes gab ich ihm zu verstehen, sein Name solle Freitag sein, weil ich ihm an diesem Tag das Leben gerettet hatte. Ich nannte ihn so zur Erinnerung an diesen Tag; ebenso lehrte ich ihn das Wort “Herr” sagen, und bedeutete ihm, das sei mein Name.” Freitag ist ein Landungstag, ein Tag der Prüfung, Tag der Todesdrohung und ein Tag der Errettung; denn Freitag ist natürlich Karfreitag – Tag der Erlösung auch für den puritanischen Christen Kreutznaer aus York. Aber während Robinson seinen Landungstag jährlich feiert, wird Freitag nach seinem Landungstag benannt; und Robinsons Dankbarkeit gegenüber seinem “gnädigen” Gott wird auf die Beziehung zwischen Freitag und Robinson übertragen: ab nun heißt Robinson selbst “Herr”.
Nebenbei bemerkt: Michel Tournier hat den Helden seines Romans »Vendredi ou Les Limbes du Pacifique« von 1967 als eine Art von Pan vorgestellt, der selbst den toten Bock zum “Fliegen und Singen bringen” kann. Der Roman endet mit einer Szene, in der Robinson – nachdem er von seinem alter ego Freitag verlassen wurde – einem Kind begegnet, das er feierlich zum “Sonntagskind” ernennt. Mit der Wendung zum Sonntag verknüpft Tournier sein Plädoyer für eine neopagane Transformation des Christentums; der auferstandene Christus wird expressis verbis zum sol invictus der römischen Cäsarenreligion konvertiert: “Von jetzt an heißt du Sonntag, sagte Robinson zu ihm. Das ist der Tag der Auferstehung, der Tag der Jugend aller Dinge, mit einem Wort: es ist der Tag unseres Herrn, des Sonnengottes. Und du, du wirst für mich immer ein Sonntagskind sein.” 8 Landungstage sind Nationalfeiertage, die ein kontingentes Schicksal zum ursprungsmythisch relevanten Fest verklären: schon Christoph Kolumbus nannte die Insel, die er am 6. Dezember 1492 entdeckt hatte, nach dem Tag seiner Landung – einem Sonntag: Dominica. Gegen solche Ernennung von “Freitagen” oder “Sonntagen” polemisiert Bertolt Brechts Kalle, der in den “Flüchtlingsgesprächen” den Patriotismus als amor fati kritisiert, als Resultat einer zeremonialisierten Zwangsidentifikation mit dem Zufall. “Die Vaterlandsliebe wird schon dadurch beeinträchtigt, daß man keine richtige Auswahl hat. Das ist so, als wenn man die lieben soll, die man heiratet, und nicht die heiratet, die man liebt. Warum, ich möcht zuerst eine Auswahl haben. Sagen wir, man zeigt mir ein Stückel Frankreich und einen Fetzen gutes England und ein, zwei Schweizer Berge und was Norwegisches am Meer und dann deut ich drauf und sag: das nehm ich als Vaterland; dann würd ichs auch schützen. Aber jetzt ists, wie wenn einer nichts so sehr schützt wie den Fensterstock, aus dem er einmal heruntergefallen ist.” 9
Die meisten Daten verführen zur Spekulation, eben weil sie keiner logischen Aufklärung zugänglich sind: sie sind – im lateinischen Wortsinn – gegeben, doch nicht gedeutet. Daß Robinson am 30. September 1632 das sogenannte Licht der Welt erblickt habe, erklärt kein Jota seines Schicksals. Und ob er nun im Jahre 1632, 1633 oder 1659 geboren wurde, erhellt keinen einzigen Augenblick seines Lebens. Daten sind Zahlenkombinationen, die leicht als Keywords zur Software irgendeines Heilsplans mißverstanden werden können. Nicht umsonst sind Horoskope – diese versprochenen Decodierungen der Keywords – immer noch beliebt. Schon von den Ägyptern berichtete Herodot, daß sie eine ausgefeilte Geburtstagssemantik entwickelt hätten: “Ferner haben die Ägypter herausgefunden, welcher Gottheit jeder Monat und jeder Tag heilig ist und welches Schicksal einem jeden Menschen, je nachdem, an welchem Tag er geboren ist, in seinem Leben beschieden werde, auf welche Art er sterben und von welcher Natur und Eigenschaft er sein werde.” 10
Dabei erscheint jedes Datum als eine sinnlose Zahlenkombination. Losgelöst von einer Person oder einem Ereignis spricht die Sequenz 30. September 1659 buchstäblich von gar nichts; sie könnte jedes denkbare Geschehen oder Objekt bezeichnen. Das Datum kodiert ein Hier und Jetzt ohne Inhalt; es verschluckt alle Bestimmungen. Auf dem Gang durch einen Friedhof begegnen wir zahllosen Erinnerungssteinen, die an nichts mehr erinnern: beschriftet mit Namen und Daten verweigern sie alle Auskünfte. “Das Datum ist ein Zeuge”, 11 sagt Jacques Derrida. Aber es zeugt von nichts; denn auch der Tod ist nur ein Datum, nicht umsonst verwechselbar mit dem Datum der Geburt. Lebensdaten, Sterbedaten, Zeiten der Regierungen, Zeiten der Revolutionen, Zeiten der Kriege, Zeiten des Friedens. Im Geschichtsunterricht mußten die Daten auswendig gelernt werden; denn kein Datum unterhält lesbare Beziehungen zu einem bestimmten Ereignis. Aus 333 folgt eben nicht die unsägliche Keilerei. Jedes Datum zerstört, was es zu bewahren scheint: jedes Datum erinnert an das Vergessen: wie ein Zeichen von der stummen Gewalt des Zufalls. 12
Vor der Wahrnehmung solcher Gewalt schützt die Mythisierung des Datums, seine zahlenmystische Auslegung. Darin besteht der Zauber von Geburtstagen und Jubiläen: Was bedeutungsvoll (und daher interpretationsfähig) erscheint, ist zumindest nicht kontingent. Auch Robinson beschäftigt sich leidenschaftlich mit Spekulationen über Sinn und Verwandtschaft bestimmter Daten und Ereignisse: “Meine Tinte, wie berichtet, war schon lang zu Ende, bis auf einen kleinen Rest, den ich mit Wasser wieder und wieder streckte, bis sie so blaß war, daß sie kaum noch eine schwarze Spur auf dem Papier zurückließ. Solange dieser Rest vorhielt, verwendete ich ihn dazu, um diejenigen Tage des Monats festzuhalten, an denen mir Merkwürdiges zugestoßen war. Dabei, so erinnere ich mich, zeigte sich bei der Zusammenstellung der Begebenheiten aus meiner Vergangenheit eine merkwürdige übereinstimmung der Tage, an denen mir die verschiedenen Schicksalsfügungen zugestoßen waren; wäre ich abergläubisch genug gewesen, bestimmte Tage als Glücks- oder Unglückstage zu betrachten, so hätte ich wohl alle Ursache gehabt, in einer solchen Koinzidenz die Bestätigung meines Wunderglaubens zu erblicken.”(181)
Erst im Zuge solcher Berechnungen “entdeckt” Robinson, daß er just am Tage seiner Geburt gestrandet ist; und er beginnt zu fragen (wie sein Erfinder Defoe), ob der Tag seiner Landung (oder Geburt: Defoe selbst wurde übrigens in der zweiten Hälfte des Jahres 1659 geboren!) als Tag der Strafe oder der Rettung, des Heils oder des Unheils, betrachtet werden muß. “Von diesem Augenblick an dachte ich in meinem Sinn, daß es für mich möglich sei, in diesem verlassenen, einsamen Zustand glücklicher zu sein als wahrscheinlich jemals in irgendeiner anderen Lebenslage auf dieser Welt; und in dieser Vorstellung begann ich Gott dafür zu danken, daß er mich an diesen Ort gebracht hatte. Ich weiß nicht, was es war, aber irgend etwas erschütterte meine Seele bei diesem Gedanken, und ich wagte nicht, die Worte auszusprechen. “Wie kannst du nur so ein Heuchler sein”, sagte ich ganz laut zu mir selber, “daß du Dankbarkeit vortäuschst für einen Zustand, aus dem befreit zu werden du aus ganzem Herzen beten möchtest, sosehr du dich auch bemühst, zufrieden damit zu sein!” Also hielt ich inne. Aber obgleich ich somit Gott nicht für mein Hiersein danken konnte, so dankte ich ihm doch ernsthaft dafür, daß er, durch welche harten Schicksalsschläge auch immer, meine Augen geöffnet und mich mein früheres Leben hatte erkennen lassen, mich auch dazu gebracht hatte, meine frühere Ruchlosigkeit zu beklagen und zu bereuen.”(157-158) 30. September 1659. Das Datum selbst bleibt vieldeutig wie der Heils- oder Unheilsindex des Tages, den es bezeichnet. Ob Daniel Defoe einen Hinweis auf seinen eigenen Geburtstag geben wollte? Ob er sein Lebensalter bei der Abfassung des Romans (59) annoncieren wollte? Ob er – mit einer geringfügigen Verschiebung – den Todestag Oliver Cromwells zitieren wollte: den 3. September 1658? (Eine solche Absicht würde immerhin erklären, wie es zu der scheinbar irrtümlichen Datierung der Strandung nach 26 Lebensjahren des 1732 geborenen Helden kam.) Ob er an den Sturz des despotischen Königs Richard II. – am 30. September 1399 – erinnern wollte? Ob er gar die Idee des Endes – vom Ende des Monats, des Sommers, des Jahrzehnts bis zum Ende einer Epoche nach Cromwells Tod – in symbolischer Vielfalt ausdrücken wollte? Wir wissen es nicht.
Floß der Medusa
Robinson wird auf seiner Insel “wiedergeboren”; doch findet er auf ihr lediglich seinen Enkidu, den wilden Doppelgänger. Erst nach dem Tod einer späteren – bloß in zwei Sätzen erwähnten – Frau fährt er nochmals zur Insel (402). Doch während er früher lediglich von seiner “Burg” oder seinem “Besitz” gesprochen hatte, heißt es jetzt: “meine neue Kolonie” (403). Robinson läßt sich von den spanischen Siedlern berichten, welche Verbesserungen und Instandhaltungsarbeiten sie vorgenommen haben, und er versorgt sie mit Waffen, Kleidern, Werkzeugen und zwei englischen Handwerkern, nämlich einem Tischler und einem Schmied. Danach etabliert er sich endgültig als Gründungsheros seiner Insel: “Überdies teilte ich das Land unter ihnen auf, behielt mir selber das Eigentum an der ganzen Insel vor, wies aber jedem von ihnen das Stück an, das er sich wünschte; und nachdem ich alles mit ihnen geordnet und sie dazu verpflichtet hatte, den Platz nicht zu verlassen, nahm ich Abschied.” (403) Ein zweiter Romulus! Und ein Vieh- und Menschenzüchter von erschreckendem Format. Aus Brasilien schickt er “noch mehr Volk zu der Insel”, dazu ein paar trächtige Kühe, Schafe und Schweine, sowie obendrein “auch sieben Weibspersonen, die mir zur Arbeit geeignet schienen oder auch als Weiber für die, die sie nehmen wollten. Den Engländern aber versprach ich, ihnen etliche Weiber aus England zu senden, zusammen mit einer guten Ladung von Dingen, die sie brauchen würden” (403-404). Kurz und gut, man kann sich leicht vorstellen, daß die “neue Kolonie” ihren “Victoria Day” 13 künftig am 30. September feiern wird, womöglich nach eigener Jahreszählung: ab insula condita.
Jean-Jacques Rousseau war – wie bereits erwähnt – ein begeisterter Leser von “Robinson Crusoe”; und er liebte den Roman wohl nicht zuletzt aufgrund der geglückten Verschmelzung politischer Kolonialgeschichte mit dem Ideal des einsamen Lebens in der Natur. Daß eben diese Verschmelzung von Politik und Natur den pädagogischen Ambitionen Rousseaus entgegenkam, ist bekannt; weniger bekannt ist vielleicht, daß sie sich auch in Empfehlungen einer neuen Festkultur niedergeschlagen hat, die erst nach Rousseaus Tod wirksam werden sollten. Sein Brief an D’Alembert von 1758 “prägte als nahezu kanonisierter Text die Selbstdarstellung” 14 der französischen Revolution. Darin wird eine Kritik der feudalen Festpraxis artikuliert, die Ablehnung einer Kultur der Repräsentation (sei es in der Schauspielkunst oder im zeremonialisierten Auftritt der Mächtigen). Das Fest soll nicht mehr zur Repräsentation der Hierarchie beitragen, sondern zur Restitution eines kollektiven Naturzustands, in dem nicht Differenzen, sondern Gemeinschaftsgefühle (durchaus im Sinne einer älteren Version des Kommunitarismus) empfunden werden können. Rousseau dekretiert: “Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele Menschen zusammenkommen, auch die Freude. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder noch besser: stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind.” 15 – Bäume: Paradiesbäume, Maibäume, Weihnachtsbäume, Freiheitsbäume, sind nicht erst seit der magnetisierbaren Ulme von Buzancy geeignete Medien einer kollektiven Ursprungsvergewisserung; und regelmäßig müssen sie – nach Thomas Jeffersons berühmt-schrecklichem Wort – mit dem “Blut der Patrioten” bewässert werden. 16
Rousseaus Credo läßt sich einem einzigen Satz des zitierten Briefs entnehmen; dieser Satz, eigentlich ein Imperativ, lautet: “Folgen wir den Hinweisen der Natur und befragen wir das Wohl der Gesellschaft.” Wer den “Hinweisen der Natur” folgt, um das “Wohl der Gesellschaft” 17 aufbauen und erhalten zu können, plädiert gleichsam für den Nationalfeiertag als kollektives Geburtstagsfest. So heißt es in der Festordnung für eine in Tours 1793 geplante “Fête à l’Etre Suprême”: “Zwischen Herr und Diener gibt es keinen Unterschied mehr: es ist der Tag der Brüderlichkeit, das Fest der Natur, die Kinder drängen sich um ihre geliebten Eltern: alle Mitglieder der großen Familie kommen zusammen, und in ihren gegenseitigen Umarmungen ehren sie das Höchste Wesen, das sie alle gleich werden ließ”. 18 Postuliert wird die regressive Auflösung der “Geschlechterspannung”19 in die Selbstinszenierungen einer gemeinschaftlich verbundenen Brüderhorde, die ihre “Mutter” als die Verkörperung der Nation, als allegorische Nationalheilige, feiert und verehrt. In der Regel ist das “Höchste Wesen” weiblich. Die Darstellung der Republik von Joseph Chinard zeigt einen weiblichen “Moses” mit Jakobinermütze, gestützt auf zwei Gesetzestafeln; und das Bild vom “Calendrier Républicain” (im Pariser Musée Carnavalet) zeigt gleichfalls eine sitzende Frau, die mit einem Zirkel Berechnungen anstellt und in ein großes Buch einträgt, das sie auf ihren Knien balanciert. Neben ihr steht eine kleine Statue der vielbrüstigen Artemis von Ephesus, freilich mit »aktualisierten« Gesichtszügen, sowie ein Putto, der – gestützt auf einen Globus – die Regeln der neuen Kalenderordnung mitzuschreiben versucht. 20
Das “Höchste Wesen” ist weiblich – wie die “Fontaine de la Règènèration”, die auf der “Fête de l’Unitè” als eine stillende Göttin rituell verehrt wurde. Bei der Festzeremonie wurde Wasser verspritzt und getrunken, das zuvor aus den Brüsten einer Statue der “Fontaine” geströmt war: “Folge den Hinweisen der Natur”. Im Zeremoniell wurde eine Art von regressiver Egalität – die Gleichheit aller (männlichen) Kinder vor den Brüsten der Mutter – praktiziert und eingeübt; in der Festordnung heißt es: “Sammelpunkt wird das Gelände der ehemaligen Bastille sein. Inmitten ihrer Trümmer wird sich die Fontäne der Erneuerung erheben, repräsentiert von der Natur. Aus ihren fruchtbaren Brüsten, die sie mit den Händen zusammenpreßt, wird im Überfluß das reine und heilsame Wasser hervorsprudeln, von dem nacheinander 86 Kommissare der Assemblèes Primaires trinken werden, jeweils einer pro Dèpartement. Der Älteste hat den Vorrang, ein einziger Kelch wird für alle genügen.” 21 Muttermilch soll also das Geburtstagsgetränk der neuen, der brüderlich vereinten Gesellschaft bilden, just am Platz der gestürmten Bastille! – Mit warmer Milch nährte schon Robinson seinen Wilden, um ihm zu helfen, den Geschmack des ehemals genossenen Menschenfleischs zu vergessen.
Die kultische Verehrung des gemeinsamen Ursprungs konnte freilich nicht verhindern, daß die “Söhne” und “Brüder” just im Auftrag der weiblichen Nationalallegorien – der Marianne, der Germania, und der zahlreichen Töchter der Nike und Victoria – auf die Schlachtfelder Europas geschickt wurden. Schon seit den Tagen des Grand Terreur, spätestens jedoch seit den Napoleonischen Kriegen, wurde der Geschmack der Muttermilch wieder ersetzt – durch den Geschmack des Menschenfleischs. Fast zum ersten Jahrestag der Schlacht von Waterloo (am 18. Juni 1815), nämlich am 17. Juni 1816, brach eine Expedition nach Senegal auf; sie bestand aus vier Schiffen, einer Fregatte, einer Korvette, einer Flüte und einer Brigg. Von Teneriffa aus segelte die Flottille nach Süden; Winde und navigatorische Pannen zerstreuten bald die Schiffe. Nach Umrundung von Kap Barbas, bei ruhiger See und klarem Wasser, lief die Fregatte, dilettantisch in Küstennähe manövriert, auf Grund; die Versuche der Besatzung, sich zu retten, scheiterten dramatisch; schließlich wurden am 8. Juli 1816 fünfzehn Überlebende, die auf einem Floß durch das Meer trieben, von der Brigg »Argus« an Bord genommen. Die Geschichte wuchs sich rasch zu einem Skandal aus: Vertreter der Bonapartisten prangerten die Unfähigkeit der royalistischen Marine an; obendrein wurde – schauriges Detail am Rande – in Erfahrung gebracht, daß die Überlebenden auf dem Floß in Hunger und Verzweiflung Menschenfleisch gegessen hatten. Im Februar 1818 begann Thèodore Gèricault sein bekanntes Bild zu malen; dabei fertigte er auch eine Skizze von der Menschenfresserei auf dem Floß an. “Der Moment der Anthropophagie, auf den er den Scheinwerfer richtet, zeigt einen muskulösen Überlebenden, der am Ellenbogen eines muskulösen Kadavers nagt. Es ist fast schon komisch. Bei so was würde es immer das Problem sein, den richtigen Ton zu treffen.” 22 Zwar gelang es Goya wenige Jahre später (1820-1823), ein grandioses Gemälde von Saturn zu malen, wie er gerade sein Kind zerreißt und frißt; doch die Szene stand gleichsam im Zeichen der Mythologie – es ging nicht um “zivilisierte” Matrosen und Offiziere der französischen Marine (oder um einen unfähigen Kapitän von Königs Gnaden), sondern um einen griechischen Gott. Um griechische Mythologie ging es freilich auch in der Tragödie auf dem Floß: die Fregatte hieß nicht umsonst »Medusa«. Gèricaults Bild wurde zwar zunächst als “Scêne de naufrage” vorgestellt (was der König Ludwig XVIII. mit seiner vielzitierten, doppeldeutigen Bemerkung würdigte: “Monsieur Gèricault, Ihr Schiffbruch ist wahrlich kein Unglück”; inzwischen heißt das Bild jedoch einhellig “Das Floß der Medusa«.
Nachsatz: Zwei Schiffbrüche
Die beiden Schiffbrüche – der Schiffbruch Robinsons und der Schiffbruch der “Medusa” – korrespondieren einander. Auf der einen Seite führt die Expedition zum Gewinn einer neuen Inselkolonie, auf der anderen Seite (trotz Küstennähe) zum Verlust des Bodens unter den Füßen; auf der einen Seite wird der Kannibalismus bekämpft und überwunden, auf der anderen Seite führt die Katastrophe zum anthropophagischen Rückfall. Auf Robinsons Insel werden die Frauen erst zum Ende des Romans “importiert”; auf dem Floß der Medusa erscheinen sie – wie Klaus Heinrich überzeugend verdeutlicht – in allegorischer Gestalt: als “Melencolia”, als “Pietá”, als “böse Fortuna”, als Meeresungeheuer und Todesdrohung des Meeres selbst. 23 Und während Robinson das Modell des Nationalfeiertags als Geburtstag vorwegnimmt (also die Inszenierung der Brüder, die eine mütterliche Nationalallegorie verehren), geht der Tag der katastrophalen Niederlage von Waterloo in die Geschichte der Fregatte “Medusa” ein: als Tag eines Aufbruchs, der den Untergang wiederholen wird. Die Verknüpfung der Geschichte vom gesunkenen “Staatsschiff” 24 mit den Napoleonischen Kriegen wurde spä testens in der Skandalisierung des Schiffbruchs – im öffentlichen Streit zwischen Royalisten und Bonapartisten – endgültig hergestellt; Klaus Heinrich hat sie in seiner Analyse jenes Holzschnitts von Karl Rössing thematisiert, der zwei Bilder Gèricaults miteinander verschränkte: das “Floß der Medusa” und den reitenden “Gardejäger-Offizier” von 1812. 25 Was Klaus Heinrich im Anschluß an Rössings Holzschnitt entwickelt, könnte – überspitzt gesagt – als Rache der Medusa charakterisiert werden. Die siegreiche “Marianne” vom 14. Juli 1789 – mit den strotzenden Brüsten, die ihr Eugène Delacroix noch im Jahr 1830 gemalt hat, und die bei der Verehrung der “Fontaine de la Règènèration” die einig gleichen Brüder und Söhne “stillen” sollten, – sitzt nun als rätselhafte Nachfahrin der antiken Medusa auf dem Floß Gèricaults. Kollektive Regression ad fontem bleibt nicht ungestraft. Die Rache der Medusa entspringt der Ambivalenz einer kulturellen Konstruktion: der nationale Feiertag ist gleichsam der »kollektive Geburtstag«, der den Genuß von Muttermilch leicht in anthropophagische Opfergier umschlagen läßt: wie am 15. August 1870 in Hautefaye, einer Gemeinde in der Dordogne, anläßlich einer “fête nationale” zur Erinnerung an das Erste Kaiserreich, in deren Verlauf die Dorfbewohner einen jungen Adeligen grausam folterten und anschließend auf offenem Feuer brieten und verzehrten. 26
Doch daran trägt Medusa keine Schuld. In seiner beeindruckenden mythologie- und kunsthistorischen Motivgeschichte zeigt Klaus Heinrich, wie schon die antike Gestaltung des Medusa-Stoffs einer prekär einseitigen Auflösung der “Geschlechterspannung” antwortet; so wie die Medusa durch den Spiegel des Perseus-Schildes enthauptet wird, so schlägt sie in eben dieser Spiegelung zurück; die Köpfe des Perseus und der Medusa werden einander ähnlich, was Heinrich als Zeichen »artistischer Melancholie« interpretiert. 27 Diese künstlerische Melancholie verkörpert sich als Stillstand; geköpft werden beide Sphären, die weibliche und die männliche. Diese ausweglose Symmetrie kennzeichnet noch das Bild Gèricaults. Die Frauen werden aus der Brüderhorde ausgeschlossen und zugleich als Nationalheilige verehrt; die Männer sterben in Kriegen und Meeren für ihre jeweiligen nationalen Weiblichkeitsikonen. Und an den Nationalfeiertagen werden diese Opferprozesse so stumm thematisiert, daß sie nicht erinnert, allenfalls wiederholt werden können: durchaus im Sinne jener »Stillstands-Metaphorik«, die Klaus Heinrich schon am Bild Gèricaults wahrzunehmen vermochte. 28
1 | Den Begriff der Faszinationsgeschichte verdanke ich Klaus Heinrich, dem der folgende Text gewidmet ist. Vgl. insbesondere Klaus Heinrich: Floß der Medusa. Drei Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang. Basel/Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995. Seite 14-15 und 41. – Der Text wurde erstmals publiziert in: Sigrun Anselm / Caroline Neubaur (Hrsg.): Talismane. Klaus Heinrich zum 70. Geburtstag. Basel/ Frankfurt/ Main: Stroemfeld/Roter Stern 1998, Seite 267.
2 | Elias Canetti: Masse und Macht. Gesammelte Werke Band III. München/Wien: Carl Hanser 1993, Seite 203.
3 | “Man kann heute nicht mehr zählen, schon vor fünfzig Jahren hat es niemand mehr gewagt; die letzte seriöse Liste datiert von 1898 und kam damals schon an ein Dreivierteltausend reiner Variantenausgaben.”, zit. nach Bettina Clausen: Robin Crusoe oder Der Herr hat eben an Mich geglaubt. Zu einem literarischen Dauermodell. In: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik. Heft 9. Berlin: Wagenbach 1981. Seite 102.
4 | Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. III. Buch. Übersetzt von Eleonore Sckommodau und Martin Rang. Stuttgart: Reclam 1993, Seite 389.
5 | Daniel Defoe: Robinson Crusoe. Übersetzt von Hannelore Novak. Frankfurt/Main: Insel 1973. Seite 11. (Der Roman wird künftig lediglich durch die Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert.
6 | Vgl. Daniel Miller: A Theory of Christmas. In: Daniel Miller (Hrsg.): Unwrapping Christmas. Oxford: Clarendon Press 1995, Seite 3.
7 | Vgl. Christina von Braun: Das Behagen in der Schuld. In: Lilli Gast/Jürgen Körner (Hrsg.): Psychoanalytische Anthropologie I. Über die verborgenen anthropologischen Entwürfe der Psychoanalyse. Tübingen: edition diskord 1997. Seite 61-94.
8 | Vgl. Michel Tournier: Freitag oder Im Schoß des Pazifik. Übersetzt von Herta Osten. Frankfurt/Main: Fischer 1982. Seite 161 und 202. Vgl. auch Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Übersetzt von Bernhard Dieckmann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Seite 364-385.
9 | Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1961. Seite 99-100.
10 | Herodot: Neun Bücher der Geschichte. Buch II. Abschnitt 82. Übersetzt von Heinrich Stein und Wolfgang Stammler. Essen: Phaidon o. J. Seite 150.
11 | Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan. Übersetzt von Wolfgang Sebastian Baur. Wien: Passagen 1986. Seite 71 und 78-79.
12 | Vgl. auch Thomas Macho: Erinnertes Vergessen. Denkmäler als Medien kultureller Gedächtnisarbeit. In: Manuel Köppen/Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln/Weimar/ Wien: Hermann Böhlau 1997. Seite 215-228.
13 | Der “Victoria Day” wurde 1890 bis 1934 als Nationalfeiertag Australiens, und zwar jeweils am ersten Montag nach dem 26. Januar gefeiert: zur Erinnerung an den “Landungstag” von Captain Arthur Philipp, der am 26. Januar 1788 zum ersten Mal die Insel betrat (in der Nähe der heutigen Großstadt Sydney). Der »Victoria Day« wird seit 1935 unter dem unverfänglicheren Titel »Australia Day« – jedoch zum selben Datum! – begangen.
14 | Inge Baxmann: Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur. Weinheim/Basel: Beltz 1989. Seite 30.
15 | Jean-Jacques Rousseau: Brief an Herrn D’Alembert. Über seinen Artikel »Genf« im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten. Übersetzt von Dietrich Feldhausen. In: Schriften. Band I. Herausgegeben von Henning Ritter. Frankfurt/Main: Fischer 1988. Seite 462-463.
16 | Vgl. Thomas H. Macho: Jugend und Gewalt. Zur Entzauberung einer modernen Wahrnehmung. In: Bernhard Dieckann/Michael Wimmer/Christoph Wulf (Hrsg.): Das zivilisierte Tier. Zur Historischen Anthropologie der Gewalt. Frankfurt/Main: Fischer 1996. Seite 221-244.
17 | Jean-Jacques Rousseau: Brief an Herrn D’Alembert. A.a.O. Seite 436.
18 | Zitiert nach Inge Baxmann: Die Feste der Französischen Revolution. A.a.O. Seite 49.
19 | Auch diesen Begriff hat Klaus Heinrich geprägt. Vgl. Floß der Medusa. A.a.O. Seite 203-207.
20 | Vgl. die Abbildungen in Inge Baxmann: Die Feste der Französischen Revolution. A.a.O. Seite 57 und 59.
21 | Zitiert nach Inge Baxmann: Die Feste der Französischen Revolution. A.a.O. Seite 71.
22 | Julian Barnes: Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln. Übersetzt von Gertraude Krueger. Zürich: Haffmans 1990. Seite 153.
23 | Vgl. Klaus Heinrich: Floß der Medusa. A.a.O. Seite 16-17.
24 | Vgl. Julian Barnes: Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln. A.a.O. Seite 151.
25 | Vgl. Klaus Heinrich: Floß der Medusa. A.a.O. Seite 12-13.
26 | Die mehrstündige Hinrichtung und Verbrennung des jungen Adeligen Alain de Moneys, die anthropophagischen Assoziationen und Wünsche der Dorfbevölkerung, hat Alain Corbin ausführlich untersucht in Das Dorf der Kannibalen. Übersetzt von Brigitte Burmeister. Stuttgart: Klett-Cotta 1992.
27 | Vgl. Klaus Heinrich: Floß der Medusa. A.a.O. Seite 29.
28 | Ebda. Seite 39.