Wenn Sie auf diesen Text verweisen möchten:
Neue Rundschau. 114. Jahrgang / Heft 1, Frankfurt/ Main (S. Fischer) 2003, 139-145; sowie in: Wolfgang Ullrich / Juliane Vogel (Hrsg.): Weiß, Frankfurt/ Main (Fischer Taschenbuch) 2003, 17-28; sowie in: Peter Berz/Annette Bitsch/Bernhard Siegert (Hrsg.): FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag. München (Wilhelm Fink) 2003, 55-62.


»Als Rilke Ende Oktober 1920 zum erstenmal nach dem Krieg wieder in Paris ist – der Stadt Rodins mit der Topographie des Malte Laurids Brigge –, kauft er, wie es sich für einen Schriftsteller gehört, ein Notizheft. Das Heft ist erhalten. Es steht darin nur am Anfang der ersten Seite: Ici commence l’indicible.« *
1.

Jede Schreibhemmung, jeder »writer’s block«, beginnt mit einer weißen Seite, einem leeren Blatt, einem blanken Bildschirm. Was sieht der Autor, der sich plötzlich nicht mehr autorisieren kann? Was stellt sich dem Wunsch in den Weg, das glänzende Weiß mit Zeichen und Buchstaben, dunklen Spuren im Schnee, zu durchlöchern? Worin besteht die Botschaft der marginalen Verschiebung, die das »write« ins »white« konvertiert? In Stanley Kubricks Film »Shining« – nach einer Romanvorlage Stephen Kings, die der Verfasser als »at heart just a little story about writer’s block« charakterisierte – tippt Jack Torrance in endlosen typographischen Variationen stets denselben Satz auf mehr als hundert Seiten: »All work and no play makes Jack a dull boy«. (In der deutschen Fassung hieß es dagegen: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«.)

Die wiederholte Niederschrift des immer gleichen Satzes erzwingt nicht unbedingt die Assoziation des Wahnsinns; sie erinnert vielmehr an Schreibübungen oder Strafarbeiten. Noch in der Grundschule wurde die erste Seite eines neuen Heftes mit besonderer Sorgfalt aufgeschlagen. Die Sätze sollten in schönster Schrift, ohne Tintenklecks oder Schreibfehler, erscheinen. Zierleisten wurden akribisch gestaltet, um den Text einzurahmen, in ein Bild zu verwandeln, das jede Frage nach seiner Bedeutung überflüssig macht, weil es in Schönheit, Ordnung und Reinheit sofort überzeugt. Erst später, auf den folgenden Seiten des Heftes, pflegte der Ehrgeiz zu schwinden; man konnte wieder schmieren, patzen, ausrutschen oder die Schrift unter die Zeilen kippen lassen. Wir haben alle früh schreiben gelernt; und vielleicht versetzt uns darum der Vorwurf, einen Text – sei es in Studium oder Beruf – schlecht geschrieben zu haben, so rasch wieder zurück auf die Schulbank. Plötzlich demonstriert das Weiß, das die Epiphanie des Wissens blockiert, seine ursprüngliche Macht. Der Autor weiß, was er immer gewußt (und doch strategisch vergessen) hat, er weiß von der vorgängigen Autorität des Weiß, von der Autorität einer leeren Fläche, die es einfach gibt – und die jeder Anstrengung trotzt, Bedeutungen zu erzeugen.

Die meisten Definitionen des Schreibwiderstands erwähnen die weiße Seite. »Sichtbar wird der Schreibblock, wenn eine Person, sei es ein Schüler, Student oder Schriftsteller vor einem leeren Blatt Papier sitzt und, egal, welche Mühe er sich gibt, kein Wort schreiben kann.« 1 Wenig später geht es aber in den meisten Studien nur noch um die Psychologie des verhinderten Autors, um seine pathologische Störung, um die mögliche Therapie einer Obstipation des Ausdrucks. Das leere Blatt, die weiße Seite, wird zwar stets als primäres Symptom zitiert, aber dennoch niemals ernstgenommen. Der Widerstand muß im Bewußtsein des Schreibwilligen gesucht und identifiziert werden, nicht im Objekt, das der Beschriftung auf merkwürdige Weise opponiert. Zu Recht betonen Deleuze und Guattari, jede »Signifikanz braucht eine weiße Wand, auf der sie ihre Zeichen und ihre Redundanzen einschreiben kann«; 2 aber gerade diese weiße Wand entzieht sich der semiotischen Analyse.

2.

Seit einer Reihe von Jahrhunderten scheinen die Schriftträger immer unsichtbarer werden zu wollen. Sie folgen darin der Tendenz von Autoren, gerade das älteste Schreibmotiv – nämlich den Auftrag, den Befehl, das Gesetz, kurzum: die Stimme der Autorität, die den Schreiber benutzt wie eine Feder – zu verleugnen. Dabei fällt es mitunter schwer, bloß als das eigene Bewegungsprinzip anzuerkennen, was in der Praxis zumeist unverfügbar bleibt. Wer als Autor seine Autonomie, gleichsam die Ursprungsmacht der eigenen Stimme, reklamiert, wird regelmäßig widerlegt. Niemand schreibt aus sich selbst. Auch darum wird metaphorisch der Genius oder eine Muse angerufen, sobald die Inspiration versagt: als müßte eine fremde, dem eigenen Bewußtsein überlegene Macht die Hemmung des Schreibflusses aufheben. Die Kulturtechnik des Schreibens wird nicht angeeignet wie die Sprache, scheinbar mühelos und im Einklang mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Das Schreiben muß trainiert werden wie das Spiel eines Musikinstruments, es verlangt Übung, Disziplin und Drill. Das Schreiben birgt – wie der Befehl in Canettis »Masse und Macht« 3 – einen »Stachel«; aber dieser Stachel bleibt gewöhnlich ebenso unsichtbar wie die weiße Seite, die darin verwandt ist mit der »tabula rasa« aller pädagogischen Abrichtungen.

Selten bemerken wir, wer in uns spricht, während wir sprechen. Die Illusion der eigenen Stimme läßt sich leichter aufrechterhalten, solange sie nicht dokumentiert werden muß. Zwar besteht beispielsweise jede »talking cure« in einer Art von Erweckung der vorgängigen Stimmen, die das Bewußtsein bevölkern; aber erst deren Niederschrift macht den gewalttätigen Einfluß sichtbar, der von den Stimmen der Eltern oder Lehrer ausgeübt wurde. Epigonalität ist ein psychographisches Schicksal, dem mancher Schüler oder Student nicht einmal zu entrinnen vermag, sobald er gegen die ehemals verehrten Autoritäten anzuschreiben beginnt. Denn jeder Satz verrät noch »his master’s voice«, gleichgültig, ob dieser Meister Hegel, Rilke, George, Benn, Heidegger, Adorno oder Lacan heißt. Nicht zu Unrecht fragte Fichte, nach mehreren Besuchen bei dem prominenten Berliner Magnetiseur Karl Christian Wolfart: »Warum erzeugt Aufmerken Aufmerken, Betrübniß Betrübniß u. dgl.? Woher überhaupt die Sympathie? Das Phänomen, daß meine Zuhörer mich verstehen unter meinen Augen, aus dem Auditorio nicht mehr, ist von gleicher Art.« 4

Die weiße Seite formatiert den Text, und zwar auf ähnliche Weise wie die magnetischen, sympathetischen Stimmen, die den Autor nicht nur inspirieren, sondern auch heillos infizieren können. Im Namen der modernen Fiktion autonomer Hervorbringung von Texten muß diese primäre Formatierung des Schreibens vergessen werden; die Stimmen- und Schriftträger werden nicht mehr wahrgenommen, bis sie als Schreibhemmungen, die – wie in »Shining« – rasch zu Stimmen und Gespenstern mutieren, an die Stelle der ausbleibenden Buchstaben und Bedeutungen treten. Diese Gespenster erzwingen die Frage, in wessen Namen wir schreiben, wenn wir schreiben; sie offenbaren aber auch die Gewißheit, daß wir stets ein Objekt mit Schriftzeichen versehen, das anonym bleibt und sich nicht zeigt. Worauf schreiben wir eigentlich, wenn wir schreiben?

3.

In den langen Zeiten vor der namentlichen Erwähnung der ersten Autoren wurde überwiegend auf Steine – später auf Metall – geschrieben. Fest, dauerhaft und unverfügbar wurde behauptet, was als Gesetz, als ein ritueller oder kultischer Text, als Epitaph und Anspruch eines Herrschers bezeugt werden sollte. Noch in den Gemälden der Renaissance oder des Barock kann Moses angeschaut werden, wie er die steinernen Tafeln des Dekalogs vom Sinai herunterschleppt. Daß er sie anschließend – verzweifelt über den Götzendienst seines Volkes – zerschlägt, bildet ein notwendiges Komplement der Narration: erklärungsbedürftig wäre ja sonst der offensichtliche Verlust der steinernen Dokumente. Denn die Steine sind unverrückbare Manifestationen des Gewichts, das einem Text zuerkannt wird; sie tragen die Botschaften durch die Jahrtausende mit dem unsichtbaren Vermerk, daß nicht gelöscht werden kann, was einmal in Stein gemeißelt wurde. So vermochte Diego de Landa im 16. Jahrhundert die Schriften und Kodices der Maya-Kultur nahezu vollständig zu vernichten; erhalten blieben jedoch die Texte auf Mauern und Steinen, die dem spirituellen Furor des Franziskanerbischofs erfolgreich Widerstand leisteten.

Auf Steinen wurde geschrieben – und auf dreidimensionalen Objekten: auf Wänden und Torbögen, Stelen und Obelisken, Tempelmauern, Denkmälern und Grabgewölben, Vasen und Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs. Die Formen der Objekte, die beschriftet werden konnten, unterwarfen sich keinem Kanon der Geometrie oder der Proportionen, um den Bedeutungen der Zeichen oder Silben gerecht zu werden; sie standen oft genug in keinem ersichtlichen Zusammenhang mit den Inhalten, die sie transportierten. In der Konkurrenz zwischen Schriftträger und Schrift siegten allemal die imposanten Objekte, nicht zuletzt indem sie die ihnen anvertrauten Texte in die ornamentalen Signaturen einer höheren Magie verwandelten, die auch eine leseunkundige Bevölkerung überwältigen mochten. Sichtbar und symbolisch dominant erschien also stets der Schriftträger, auch wenn die Schriftzeichen, die er übermittelte, gar nicht entziffert werden konnten.

Als die Athener und Spartaner, zehn Jahre nach Beginn des Peloponnesischen Krieges, Frieden schließen wollten, vereinbarten sie einen Friedensvertrag, der nach allen Absichtserklärungen zur Wiederherstellung des Status quo – der Rückgabe der eroberten Städte und Kriegsgefangenen – zum Ende die Klausel enthielt, alle Vertragspartner der verfeindeten Bündnisse sollten auf ihren Marktplätzen Bronzesäulen aufstellen mit dem Text des Friedensvertrags, um ihn einmal jährlich von siebzehn ausgewählten Männern rezitieren zu lassen. 5 Thukydides, vielleicht der erste methodisch reflektierte Historiker überhaupt, genoß offenbar die Gelegenheit, einen Text wörtlich – und nicht wie die politischen Reden der Kombattanten bloß aus dem Gedächtnis – zitieren zu können, weil er einem metallischen Objekt anvertraut wurde, nicht allein dem vergänglichen Papyrus. (Daß der Friede zwischen Athen und Sparta – allen Bronzesäulen zum Trotz – nicht lange hielt, findet seinen thematisch passenden Kommentar in Hegels berühmtem Satz, daß die »Perioden des Glücks« und der friedlichen »Zusammenstimmung« nur »leere Blätter« in der Weltgeschichte bilden. 6

4.

Worauf schreiben wir, wenn wir schreiben? Die Geschichte des Machtverlusts der Schriftträger, dieser zunehmenden Reduktion ihrer Sichtbarkeit, sollte nicht bloß als die langwierige Genealogie des Autors, als seine Emanzipation von den Ansprüchen der Autorität, erzählt werden, sondern auch als eine materielle Entwicklung, genauer gesagt: als sukzessive Dematerialisierung. Früh schon begann der Verzicht auf die dritte Dimension. Die mesopotamischen Tongefäße zur Aufbewahrung von Plättchen (»Tokens«), mit eingeritzten Zeichen für Kühe, Schafe, Ziegen oder spezifische Kornmengen, wurden ersetzt durch Tontafeln mit keilschriftlichen Listen; die Schriftträger wurden flacher, auch wenn sie als Papyrusrollen oder Bücher einen gewissen Objektstatus behielten. Doch auf diese residuale Dreidimensionalität (die noch jedes Blatt Papier besitzt) kam es nicht an; entscheidend war vielmehr, daß die Schriftträger – spätestens seit dem epistemologischen Aufschwung der griechischen Geometrie – als Flächen betrachtet wurden, deren Gegenständlichkeit nur aus den inhaltlichen Bedeutungen der Schriftzeichen erschlossen werden konnte, die auf ihnen erschienen. Seither wurden keine materiellen Stoffe mehr beschrieben, sondern Ereignisse, Taten oder vorgestellte Objekte.

Diesem Paradigmenwechsel der Wahrnehmung von Schriftträgern, einer folgenreichen Verwandlung der »oggetti parlanti« 7 in bedeutungsarme Flächen, sekundierte die Ablösung anorganischer Materialien – wie Stein, Metall, Ton – durch organische Beschreibstoffe, die gleichsam die Schrift mit dem menschlichen Körper zu verbinden erlaubten. Nicht umsonst konvergiert die Geschichte der Durchsetzung organischer Schriftträger mit der Geschichte der Kleidung und der Textilien. Ab dem dritten vorchristlichen Jahrtausend wurden beispielsweise die Stengel der Papyrusstaude, die bis zu drei oder vier Meter hoch wachsen können, zu Bottichen, Körben und Flechtwerk verarbeitet; man erzeugte aus ihnen Kleider, Schuhe, Taue und schließlich den Papyrus, der dem Papier seinen Namen geben sollte. Zweihundert Jahre nach Christus eroberte das Pergament den Mittelmeerraum; es wurde nicht wie der Papyrus aus einer Pflanze, sondern aus mechanisch gereinigten Tierhäuten hergestellt – ähnlich wie Leder, das freilich durch eine zusätzliche chemische Prozedur, die Gerbung, haltbar gemacht werden muß. Für eine ordentliche Pergamentbibel benötigte man übrigens nahezu fünfhundert Kalbshäute! Beschriftet wurden also Pflanzenstoffe oder Tierhäute, Bekleidungsmaterialien und textile Gewebe (wie beispielsweise Teppiche), aber auch pflanzliche Tierprodukte wie das Bienenwachs.

Wachs wurde bereits im alten Orient vielfach verwendet. Die ersten Zeugnisse für seinen Einsatz als Schriftträger stammen aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert; so berichtet etwa Herodot von der geheimen Nachricht, die Demeratos seinen Landsleuten auf einer Holztafel übermittelt habe, die anschließend nochmals mit Wachs überzogen wurde. 8 Wie kein anderer Schriftträger verkörpert das Wachs die kulturelle Plastizität der Schrift, ihre Mehrdeutigkeit und buchstäbliche Doppelbödigkeit: in scharfer Differenz zu den anorganischen Stoffen erlaubt das Wachs nicht nur die rasche Eintragung von Zeichen, sondern auch deren ebenso umstandslose Löschung. Erstmals erschien mit den Wachstafeln also die weiße Seite, die »tabula rasa«, als jederzeit offene Möglichkeit; Beschriftungen konnten sich offenbaren als Ergebnisse einer permanent widerrufbaren Operation. Appliziert wurden die – je nach Gebrauchskontext weicheren oder härteren – Wachsschichten auf Holz- oder Elfenbeintafeln, also wiederum auf organische Materialien. Zwar ließ sich Wachs nicht zu Kleidern verarbeiten; Wachsmasken und Wachspuppen, die in Theater und Totenkult verwendet wurden, demonstrierten jedoch eine womöglich noch größere Nähe zwischen Schriftträgern und Körpern als der Papyrus oder das Pergament.

5.

Die Dematerialisierung der Schriftträger – und deren latent unheimliche Verschmelzung mit den Körpern und Köpfen der Autoren – beschleunigte sich nach der Erfindung des Papiers. Erst auf Papier konnte die weiße Seite, gleichsam als die unsichtbare Nullstelle materieller Repräsentation, reüssieren. Nicht umsonst kam Papier, in China schon um 105 n.Chr. bekannt, auf denselben Wegen nach Europa wie die Ziffer Null, nämlich im Zuge des islamischen Wissens- und Technologietransfers zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert; und nicht umsonst stieß Papier zunächst auf dasselbe Mißtrauen wie die Null, die als umbre et encombre, als »dunkel und unklar« erschien – und deren Name darauf verwies, daß sie nulla figura, also kein geometrisierbares Zeichen, sei. König Roger II. von Sizilien oder Kaiser Friedrich II. ließen Papiertexte auf Pergament übertragen; 1231 wurde die Verwendung des Papiers für rechtskräftige Urkunden sogar explizit verboten. Papier stand obendrein nicht nur – wie Papyrus, Pergament oder Wachs – in einer gewissen Beziehung zu Körpern und Gewändern, sondern wurde direkt aus Lumpen und Altkleidern hergestellt. Nach Erfindung des Buchdrucks und einem seither rapide wachsenden Papierbedarf herrschte daher notorischer Lumpenmangel bei den Papiermühlen; noch im 18. Jahrhundert wurde heftig um Lumpensammelmonopole und Lumpenausfuhrverbote gestritten.

Die weiße Fläche des Papiers, seine imaginäre Zweidimensionalität, erinnert an einen Planspiegel, der viele Welten einzufangen vermag, ohne dabei sein eigenes Wesen zu offenbaren. Wie die Null (und das indoarabische Stellenwertsystem) setzten sich flache und gerahmte Glasspiegel erst ab dem 14. Jahrhundert durch. Noch in der Antike waren bloß leicht gewölbte Konkav- oder Konvexspiegel gebräuchlich, die aus poliertem Metall – Bronze, Silber oder Gold – erzeugt wurden. Diese Spiegel waren nicht sehr groß; sie wurden hauptsächlich als Handspiegel (mit einem Griff) oder Klappspiegel (mit einem Standfuß) produziert. Die frühen Glasspiegel erreichten noch kaum eine halbwegs unverzerrte Wiedergabe des Spiegelbilds; dennoch trat der Glasspiegel fast augenblicklich einen beispiellosen Triumphzug an. Der Durchbruch zur modernen Spiegelproduktion wurde erst im 17. Jahrhundert geschafft; im Jahr 1687 sicherte sich der französische Glasmacher Bernard Perrot das Patent auf ein Verfahren zur gleichmäßigen Walzung von Glasplatten; erst seither war es möglich, lebensgroße Wand- und Standspiegel herzustellen. 9

Die spiegeltechnischen Revolutionen zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert wurden auch ermöglicht durch die Rezeption und Weiterentwicklung der arabischen Optik. Die antike Geometrisierung der Blicke als »Sehstrahlen« wurde aufgegeben; an ihre Stelle trat eine Optik der Projektionen und der Reflexionen, die seither die Konstruktionsgeschichte wissenschaftlicher Instrumente und den Aufbau experimenteller Arrangements so erfolgreich prägen sollte, daß die regelmäßige Einschaltung einer zweidimensionalen Projektions- oder Aufschreibefläche gar nicht mehr auffiel. Wie der Spiegel fungierte das Papier zunehmend als ein selbst nicht mehr sichtbares Medium des Protokolls und der Notation; Schrift erschien gleichsam von vornherein – wie die Buchstaben REDRUM in »Shining« – als »Spiegelschrift«. Christian Kassung hat in einem leider noch unveröffentlichten Vortrag 10 sehr präzis gezeigt, wie sogar das Scheitern des physikalischen »Doppelspalt-Experiments«, das schließlich zur Konzeption einer Quantentheorie des Lichts führen sollte, auf die Unmöglichkeit zurückgeführt werden kann, zweidimensionale Projektionsflächen als Indikatoren, als »Beobachter zweiter Ordnung«, zu verwenden.

6.

Die unsichtbare »weiße Wand« wird bemerkbar anläßlich experimenteller Mißerfolge, in der Erfahrung des »writer’s block«, neuerdings auch als unerwünschtes Zufallsergebnis technischer Medien. Fehlfunktionen in Computern, Kopier- oder Faxgeräten erzeugen ebenso weiße Seiten wie die Überbelichtung von Fotografien; sie generieren, was ehemals in der Fachsprache der »schwarzen Kunst« – des Buchdrucks – als »Schimmelbogen« bezeichnet wurde. Aber dieser »Schimmel« erinnert gegenwärtig nicht mehr an ein weißes Pferd, sondern allenfalls an den Pilz, der sich auf Nahrungsmitteln ausbreitet, die zu lange gelagert wurden. Weiße Seiten sind Abfall – ebenso wie das Papier, das selbst als Newspaper die Mülltonnen füllt. Weiße Seiten verkörpern den Abfall von den Paradigmen einer kulturellen Technik der Bedeutungserzeugung durch Projektion auf immaterielle Flächen. Was heute als Ende der »Gutenberg-Galaxis« (oder als Untergang des Tafelbildes in den Künsten) diskutiert wird, könnte präziser als Relativierung jener unsichtbaren, zweidimensionalen Ebenen charakterisiert werden, die schon Jahrhunderte vor der Erfindung des Buchdrucks die Texte, Bilder oder Rechenoperationen zu formatieren begannen.

Tatsächlich sieht es so aus, als käme mit Computern und elektronischen Netzwerken eine Etappe in der Geschichte der Schriftträger zu ihrem logischen Ende. Computer sind eben dreidimensionale Objekte; selbst die Bildschirme, die gelegentlich an die weiße Seite erinnern, sprengen immer häufiger – in einer 3D-Programmierung oder als Hypertext – die Fiktion der immateriellen, zweidimensionalen Projektionsfläche. Computer sind Maschinen, gefertigt aus Metallen, Kunststoffen und Silizium, kurzum: anorganische Schriftträger; sie widersetzen sich der Verschmelzung mit den Körpern und Köpfen der Autoren, was in kritischer Perspektive oft genug beklagt wurde. In gewisser Hinsicht vereinen Computer die Vorzüge von Stein und Wachs, die Operationen des save und delete. Sie sind darum die wahren »Wunderblöcke«, die Freud bloß als Metaphern für die Strukturen des Unbewußten interpretierte, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Geschichte der Kulturtechniken und der Schriftträger ihrerseits die Funktionen des Bewußtseins, des Erinnerns und Vergessens, konstituiert und ausdifferenziert. Womöglich sind Computer gar keine Instrumente der Wissensrepräsentation, sondern schlicht und einfach die apparativen Formen, in denen das Wissen selbst evolviert und zirkuliert, ohne länger die Instanzen der Autorschaft zu benötigen.

Computer sind keine Fenster, wie uns die Firma Microsoft – und ihr Begründer, dessen Nachname die Türen zu den Fenstern verspricht – einzureden versucht; sie brechen mit dem System der »weißen Wand«, auf der die Zeichen wie »schwarze Löcher« erscheinen. Warum schreibt Jack Torrance in »Shining« auf einer mechanischen Schreibmaschine – und nicht auf einem PC? Nichts wäre leichter, als die Wiederholung eines einzigen Satzes (mit wechselnden Formaten, Schriften und Textdesigns) zu programmieren – und danach den Arbeitsplatz zu verlassen. Computer reduzieren noch den »writer’s block« auf die Möglichkeit, Textblöcke – aus faktisch unlimitierbaren Vorräten – zu kopieren, zu verschieben und zu manipulieren. Was geschrieben wurde, ist gleichsam simultan zugänglich und verfügbar. Die Technik der Imagination, das »Shining« der Hellseherei, das sich nirgends deutlicher manifestiert als in der weißen Seite, auf der – wie durch Zauberhand – die bedeutungsschweren Zeichen, Menetekel von vornherein, erscheinen, wird überboten durch Techniken der Bewegung, durch eine universelle Kinetik, die im weißen, jedoch dreidimensionalen Trainingsraum der »Matrix« eingeübt werden kann. »Shining« gehört zur vergangenen Geschichte der Schriftträger; Computer sind dagegen das »Shining« selbst, eine unbegrenzbare Möglichkeit der Vergegenwärtigung ohne Anspruch auf Repräsentation, Spiegelung oder deren enigmatische Blockade – die weiße Seite. Die Papiermaschinen haben das Papier, auf dem sie einmal konzipiert wurden, längst verschluckt. 11


* | Hans Blumenberg: Begriffe in Geschichten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. Seite 227

1 | Christel Böhme: Schreibwiderstände in Schreibgruppen und Methoden ihrer Überwindung. In: Marion Nietsch (Hrsg.): Wenn ich schreibe … Berlin: Schelzky & Jeep 1990. Seite 126. Vgl. auch Otto Kruse: Keine Angst vor dem leeren Blatt. Ohne Schreibblockaden durchs Studium. Frankfurt am Main/New York: Campus 41995

2 | Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin: Merve 1992. Seite 230.

3 | Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht. München/Wien: Carl Hanser 1993. Seite 360 f.

4 | Johann Gottlieb Fichte: Tagebuch über den animalischen Magnetismus (1813). In: Sämtliche Werke. Band XI. Bonn: Adolph Marcus 1835. Seite 300 f.

5 | Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Übersetzt und herausgegeben von Helmuth Vretska und Werner Rinner. Stutt­gart: Reclam 2000. Seite 397 f.

6 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Band 12. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970. Seite 42.

7 | Vgl. Jesper Svenbro: Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens. Übersetzt von Bernd Schwibs. In: Guglielmo Cavallo / Roger Chartier (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/Main/New York/Paris: Campus/Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme 1999. Seite 74 f.

8 | Vgl. Das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos. Übersetzt von Theodor Braun. Frankfurt/Main/Leipzig: Insel 2001. Seite 651 (VII, 239).

9 | Vgl. Thomas Macho: Narziß und der Spiegel. Selbstrepräsentation in der Geschichte der Optik. In: Almut-Barbara Renger (Hrsg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2002. Seite 13-25.

10 | Vgl. Christian Kassung: Formelbilder: Sehen und Rechnen in der modernen Physik. Unveröffentlichtes Typoskript eines Vortrags im Rahmen des Workshops: Zeichnen / Schreiben / Rechnen auf Papier am »Hermann-von-Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik« an der Humboldt-Universität Berlin am 21. Juli 2000.

11 | Vgl. Friedrich Kittler: Es gibt keine Software. In: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993. Seite 225-242, insbesondere Seite 226 f.