Die neuen Kriege im Licht von »Masse und Macht«
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Volltext. Zeitung für Literatur, Heft Nr.3/2005 – Juni/Juli 2005, Wien 2005, 8-10.
1. Mimetische und antagonistische »Doppelmassen«
Elias Canetti hat den Begriff der »Doppelmassen« in seinem theoretischen Hauptwerk1 auf elementare Antagonismen bezogen, und zwar auf die Antagonismen von Frauen und Männern, Lebenden und Toten, Freunden und Feinden. Es fällt nicht schwer, in der Abfolge dieser drei Antagonismen auch eine Art von historischer Skizze zu erkennen: Für die Lebensformen der Jäger und Sammlerinnen war ja die Geschlechterdifferenz sozial konstitutiv, für eine Vielzahl von Agrarkulturen die Differenz zwischen Lebenden und Toten, und in den modernen Industriegesellschaften dominiert die Differenz zwischen Freunden und Feinden. Natürlich schließt keine antagonistische Differenz die andere aus; Canetti hat selbst an mehreren Beispielen demonstriert, wie etwa die Doppelmasse im Krieg – der Antagonismus zwischen Freunden und Feinden – als Gegensatz von Lebenden und Toten imaginiert wurde, und wir wissen auch, daß dieser Gegensatz häufig sexualisiert wurde, etwa als Krieg von Männerbünden gegen feminisierte Feinde.
Doch verbergen die antagonistischen Differenzen häufig nur ihre mimetische Dramaturgie; in gewisser Hinsicht verkörpert der Antagonismus sogar eine Art von »Erlösung«, eine Absolution von jener Mimesis, die als Grundprinzip der Massenbildung überhaupt angesehen werden kann. Denn jede Kollektivierung verdankt sich einem Sog der Nachahmung, einem mimetischen »Infektionsprozeß«, der sich an zahlreichen Erscheinungsformen der Massenpanik – von der Flucht bis zum Angriff – beobachten läßt. Denken wir beispielsweise an die Schlüsselszene in Alfred Hitchcocks Torn Curtain (von 1966): Die Befreiung des US-Physikers Michael Armstrong und seiner Verlobten (gespielt von Julie Andrews) aus der bedrohlichen Verstrickung in die »Doppelmassen« des Kalten Kriegs im geteilten Berlin gelingt nur durch die Entfesselung einer mimetischen Massenflucht, die Armstrong (Paul Newman) durch den Ruf »Fire, Fire!« in einem voll besetzten Theatersaal auslöst.
Der Ausdruck »Doppelmasse« erinnert nicht umsonst an die – kulturell weit verbreitete – Vorstellung von Doppelgängern. Auch an der Motivgeschichte der Doppelgänger läßt sich nämlich studieren, wie die Unheimlichkeit der mimetischen Doublierung, die René Girard in La Violence et le sacré (von 1972) so präzis untersucht hat,2 durch die Bildung von Antagonismen und Polarisierungen gebrochen und gebannt wird. Erst in jenem Augenblick, in dem der Doppelgänger – das Spiegelbild, der Schatten, der Klon – eindeutig als Feind, als der böse Andere, wahrgenommen wird, kann er mit Erfolg von der eigenen Existenz abgegrenzt und bekämpft werden. Dagegen sind in »der kollektiven Erfahrung des monströsen Doppelgängers«, wie Girard betont, »die Unterschiede nicht aufgehoben, sondern verwischt und vermengt. Die Doppelgänger sind alle gegenseitig austauschbar, ohne daß ihre Identität klar erkennbar wäre.«3 Die monströsen (weil mimetischen) Doppelgänger werden vernichtet, sobald sie – nach Girard – in einem Opferritual dem panischen Kollektiv als Repräsentation eines schlechthin Anderen gegenübergestellt werden können, sobald also die mimetischen Doppelgänger in einen antagonistischen Doppelgänger verwandelt werden.
Canetti hat den Mechanismus dieser Transformation mimetischer in antagonistische Doppelgänger (oder eben: Doppelmassen) nicht explizit thematisiert – und dennoch ziemlich genau angesprochen. Schon zu Beginn des Kapitels über die »Doppelmasse« beschreibt er eigentlich die Erfahrung einer kollektiven Spiegelung: »Während die Beine auf der einen Seite dicht beisammenstehen, sind die Augen auf andere Augen gegenüber gerichtet. Während die Arme sich hier nach einem gemeinsamen Rhythmus bewegen, horchen die Ohren auf den Schrei, den sie von der anderen Seite erwarten.« 4 Die Konstitution der kriegerischen »Doppelmasse« setzt also eine völlig symmetrische Ordnung voraus, die Canetti – wenige Seiten später – als Effekt einer wechselseitigen Projektion charakterisiert. »Es ist ein ganz erstaunliches Unternehmen. Man beschließt, daß man mit physischer Vernichtung bedroht ist, und verkündet diese Bedrohung öffentlich vor aller Welt. ›Ich kann getötet werden‹, erklärt man, und leise denkt man dazu: ›weil ich den oder jenen töten will‹. Der Ton müßte in Wahrheit auf dem Nachsatz liegen: ›Ich will den oder jenen töten, darum kann ich selber getötet werden‹. Aber für den Beginn des Krieges, für seinen Ausbruch, für die Entstehung der kriegerischen Gesinnung unter den eigenen Leuten ist es die erste Fassung allein, die man sich zugibt.«5
Denn der Krieg kann eigentlich nur ausbrechen, wenn die Einsicht in die Reziprozität der Fronten wieder vergessen wird. Die Unheimlichkeit der mimetischen Spiegelung, der Doppelmassenbildung, muß verleugnet werden, und zwar zugunsten der Herstellung antagonistischer Gegner. Die Feinde wollen uns töten, darum sind sie böse – und wir müssen sie besiegen. Wir selbst sind jedoch gut (und ohne böse Absicht), weil wir nur in Notwehr – und um selbst nicht getötet zu werden – unsererseits zu töten beginnen. Die Polarisierung von Freund und Feind, von Gut und Böse, schützt gleichsam vor dem heillosen Schrecken der Mimesis, der kollektiven »Verwischung« aller Unterschiede. Daher muß in jedem Krieg die Polarität, die antagonistische Differenz, propagandistisch aufrechterhalten und verlängert werden; jeder Krieg tendiert somit dazu, sich selbst zum »heiligen Krieg« zu erklären. Was ausgeschlossen werden muß, ist die Erfahrung der Verwechselbarkeit, der Identität gegnerischer Positionen. Als zu Weihnachten 1914 die deutschen, englischen und französischen Truppen im Schützengraben gemeinsam feierten, gerieten die Generalstäbe in große Unruhe; und »sofort erließen offizielle Stellen aller drei Länder strenge Bestimmungen, um zu verhindern, daß das Beispiel Schule machte«; in einer Weihnachtsbroschüre des nächsten Jahres wurde vorsorglich betont, daß »unsere Liebe« stets »gepanzert« bleiben müsse. 6
Das Risiko, das anläßlich der Kriegsweihnacht 1914 wahrgenommen wurde, bestand in der Verwandlung antagonistischer Doppelmassen in mimetische Doppelmassen. Im Glücksfall könnten diese mimetischen Doppelmassen schlicht Frieden schließen (und somit die Doppelmassenbildung überhaupt aufgeben). Die »Verwischung« aller Unterschiede kann aber auch zu einer Art von Verwirrung führen, die charakteristisch ist für alle Bürgerkriege: Jeder gerät dann rasch in Verdacht, ein potentieller Feind zu sein. Eine solche paranoische Retransformation der antagonistischen Doppelmasse von Freunden und Feinden in mimetisch »verwirrte« Doppelmassen – besser gesagt: in eigentliche, durch keinen Bann der Polarisierung mehr geschützte Doppelmassen – haben wir wahrscheinlich in der Endphase des Kalten Kriegs erlebt. Die Symmetrie der Logic of Deterrence zwischen den beiden Supermächten war ja bereits in den Krisen der frühen Achtzigerjahre so evident und sichtbar geworden, daß sie ebensogut zu wechselseitiger Abrüstung wie zum »Krieg der Sterne« hätte führen können. Der rasche Untergang des Sowjetimperiums bewirkte allerdings keinen Frieden, sondern vielmehr eine Steigerung globaler Unsicherheit und Paranoia, die sich bald in den vieldiskutierten »neuen Kriegen« – von den Bürgerkriegen auf dem ehemaligen Staatsgebiet Jugoslawiens bis zum aktuellen »Krieg gegen den Terror« – dramatisch ausdrücken sollte. Bürgerkrieg und Terror sind die wichtigsten Erscheinungsformen der Rückverwandlung antagonistischer Doppelmassen in mimetische Doppelmassen.
2. Bürgerkrieg und Terrorismus
Noch im Bann der Ereignisse vom 11. September 2001 publizierte Michael Walzer – in der von ihm herausgegeben Zeitschrift »Dissent« – einen Essay unter dem Titel: »Fünf Fragen zum Terrorismus«. Er begann mit einem Definitionsversuch. An erster Stelle charakterisierte er den Terrorismus, der als bewußte Tötung »Unschuldiger, die zufällig am falschen Ort sind«, praktiziert werde, um »einer ganzen Bevölkerung Furcht einzujagen und ihre Regierungen unter Druck zu setzen«; danach nannte er den »Staatsterrorismus«, der »von diktatorischen und totalitären Regierungen gegen ihr eigenes Volk eingesetzt wird, um Furcht zu verbreiten und eine politische Opposition im Keim zu ersticken«, und an dritter Stelle den Terrorismus im Krieg, »die Anstrengung, Zivilisten in so großer Zahl zu töten, daß ihre Regierungen zur Kapitulation gezwungen sind« (etwa durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki).7 Was verbindet diese Formen des politischen, des staatlichen und des militärischen Terrors? Michael Walzer, dieser sympathische und kluge Moralist, betont die strategische und bewußte Ermordung unschuldiger Menschen und Zivilisten zum Zweck der Erzeugung von kollektiver Angst und politischem Druck. Was ihm dabei jedoch entgeht, ist die Voraussetzung einer solchen Strategie: nämlich die Möglichkeit, eine zahlenmäßig unbegrenzbare Öffentlichkeit in Panik zu stürzen oder zu erpressen. Die terroristische Intention, »Furcht einzujagen« und »zu verbreiten«, die mehr oder weniger bewußt betriebene Verwandlung der antagonistischen Doppelmasse in eine mimetische Doppelmasse bedarf einer Technologie der Verbreitung, der mimetischen Massenbildung.
Die Ausdrücke »Terror« und »Terrorismus« sind übrigens historisch so jung wie die Ereignisse und Aktionen, die sie bezeichnen. Natürlich gab es schon in den altorientalischen Hochkulturen Despoten und grausame Tyrannen, unberechenbar für Hofstaat und Untertanen; selbst ihr Blick galt manchmal als tödlich, weshalb es – nach einer Bemerkung Canettis 8 – in der altkolumbianischen Kultur der Muisca üblich war, Verbrecher zu einer letalen Ansicht des Machthabers zu verurteilen. Auch von Attentaten, Tyrannenmorden, Menschenopfern und Praktiken der Lynchjustiz berichten Mythen und Annalen. Und doch gab es nichts, was den Formen des Terrors und Terrorismus gleichen würde, die wir heute kennen und beklagen. Die Schrecken permanenter, doch zugleich oft unsichtbarer Gewalt, die Ängste vor Folter, Anschlägen, Drohungen, Denunziationen, die Sogwirkungen allgegenwärtiger Paranoia konnten gar nicht eskalieren zu einer gesellschaftlichen Grundstimmung, zur sozialen Synthesis des Verdachts und des Verrats; denn alle Nachrichten oder Gerüchte kursierten nur langsam, auf begrenztem Raum, und häufig waren sie gar nicht an ein Kollektiv adressiert. Der Terror bedarf dagegen des Publikums und der Propaganda, er braucht Medien – von der Presse bis zu Radio, Telefon, Fernsehen und Internet – und er setzt alphabetisierte, in den Techniken der Fernkommunikation trainierte und kompetente Massen voraus.
Darum sind die Erscheinungsformen und Strategien des Terrors konstitutiv modern. Und obwohl es die katholische Gegenreformation war, die den Ausdruck »Propaganda« ungewollt kreiert hatte – 1622, durch die päpstliche Gründung der Sancta Congregatio de Propaganda Fide –, wurden die modernen Bedeutungen von »Propaganda« und »Terror« erst während der Französischen Revolution festgelegt und exemplifiziert. Ein paar Wochen nach der levée en masse, der Einführung allgemeiner Wehrpflicht am 23. August 1793, kam es zur Verabschiedung des »Gesetzes über die Verdächtigen« (am 17. September) und schließlich (am 10. Oktober) zur Aufhebung der Verfassung. Danach begann die jakobinische Schreckensherrschaft, die in der Grande Terreur – vom 10. Juni bis zum 27. Juli 1794 – gipfelte. In wenigen Wochen wurden mehr als tausend Todesurteile vollstreckt, und zwar auf Grundlage eines Gesetzes, das alle Funktionsmechanismen der Rechtsprechung im Falle mutmaßlicher »Revolutionsfeindlichkeit« suspendierte. Zuletzt starben bekanntlich Robespierre und seine Anhänger selbst auf dem Schafott. An der Geschichte der Grande Terreur läßt sich die mimetische Eskalationsspirale studieren, in der die Panik der Regierenden von wachsender Panik der Regierten gesteigert wird – und umgekehrt; zugleich läßt sich die Abhängigkeit dieser beschleunigten Eskalation von jener langsameren Eskalation demonstrieren, in der die Verfassungen und Rechtssysteme zunehmend ausgehöhlt, suspendiert und durch Notstandsverordnungen ersetzt werden.
Im Terror wird die paranoische Inversion, die Canetti als Prinzip der Konstitution kriegerischer Doppelmassen charakterisierte – ich verfolge, weil ich verfolgt werde, und ich werde verfolgt, weil ich verfolge – gleichsam totalisiert. Manchmal reagieren Terroristen auf einen staatlichen oder militärischen Terrorismus; häufiger noch reagieren Staaten auf terroristische Aktionen, indem sie selbst beginnen, Freiheitsrechte einzuschränken, ihre Bevölkerungen auszuspionieren und – in einem Klima der Angst und der Bedrohung – zu vergattern. So antwortete Deutschland im düsteren Herbst des Jahres 1977 auf die RAF; so antworten heute die Vereinigten Staaten auf die Septemberanschläge des Jahres 2001. Der eskalierenden Paranoia entspringt eine Art von Bürgerkriegsstimmung: der Feind ist plötzlich überall, und wie in Kafkas großartiger Novelle Der Bau zeigt er seine Gefährlichkeit am eindringlichsten, sobald er sich gar nicht mehr zeigt. Terrorismus ist ansteckend wie die Paranoia. Nach jedem erfolgreichen Anschlag treten »Nachahmungstäter«, Bluffer und »Trittbrettfahrer« auf. Sie verkörpern gleichsam die soziale Infektion des Terrors, die »mimetische Krise«, die René Girard zumeist nur an den Opferritualen vergangener Kulturen und Epochen demonstriert hat. Dabei läßt sich die These vom Erscheinen der »monströsen Doppelgänger«9 am zeitgenössischen Terrorismus viel klarer und einsichtiger exemplifizieren als an der Antike; nicht umsonst haben die älteren, »kalten« Kulturen die infektiösen Gewalten der Nachahmung durch Genealogie, Hierarchie und soziale Stratifikation diszipliniert, während die Moderne – in Politik wie Ökonomie – geradezu als »heiße« und dynamische Entfesselung mimetischer Wünsche und kollektiver Panikattacken betrachtet werden kann.
Schon vor dem dritten Jahrestag der Terroranschläge auf World Trade Center und Pentagon hatten Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Es ist nicht besonders schwierig, diese Verschwörungstheorien – etwa die Botschaft Thierry Meyssans, es sei gar kein Flugzeug ins Pentagon gestürzt – als krassen Unsinn zu entlarven;10 schwieriger ist es vielleicht, die rasche Verbreitung dieses Unsinns zu erklären – selbst wenn die Erklärung auf der Hand liegt. Die paranoische Inversion verwirrter Doppelmassen artikuliert sich eben vorrangig im freien Wettbewerb, in der Konkurrenz von Verschwörungstheorien; dabei ist weniger entscheidend, wo die Verschwörung lokalisiert wird: in einer geheimen Kommandozentrale der Islamisten oder im Weißen Haus, in den Chefbüros von CNN oder Lockheed, in Geheimdiensten oder Geheimbünden. Der Terror ergibt sich schlicht aus dem kollektiven Zwang, irgendeiner Verschwörungstheorie anhängen zu müssen, anders gesagt: aus jener generellen Verschwörung, die uns dazu bringt, Verschwörungstheorien wechselseitig auszutauschen anstatt die realen Mechanismen eskalierender Paranoia, die mimetischen Verbreitungsbedingungen des Terrors, zu analysieren. Erst einer solchen Analyse könnte die vergleichsweise simple Einsicht entspringen, daß wir uns alle unwillentlich an der systemischen Aufrechterhaltung und Ausbreitung des Terrors – der Konversion antagonistischer in mimetische Doppelmassen – beteiligen: als Regisseure und Statisten vielfältiger Verschwörungs- und Verfolgungsszenarien, als Terroristen und Terrorisierte zugleich.
Vielleicht bildet darum das Selbstmordattentat den eigentlichen Kern der neueren Erscheinungsform (und Faszination) des Terrorismus: nicht allein weil es die Kurzfassung zahlreicher Heldenmythen – von den griechischen Heroen bis zu den christlichen Märtyrern – darstellt, sondern auch, weil es die Schnittstelle repräsentiert, an der das System des Terrors, die paranoische Inversion der Polarisierung in die Mimesis, aufbricht und zugleich verschlossen wird. Der Selbstmordattentäter ist der terrorisierte Terrorist schlechthin, der Attentäter, dessen Anschlag zuerst auf das eigene Leben zielt. Seine Angst und Panik nimmt die Angst und Panik vorweg, die er bewirken will, anders als im Fall des symbolischen Tauschs, den Iwan Kaliajew in Les Justes von Camus vornimmt, indem er auf seine Begnadigung verzichtet und den Tod des von ihm ermordeten Großfürsten mit seiner eigenen Hinrichtung sühnen will. Kaliajew begleicht eine Rechnung, Tod gegen Tod; der Selbstmordattentäter, dieser verfolgte Verfolger, reißt dagegen wahllos viele Menschen in seinen Tod hinein. Er führt keine Debatten über Gerechtigkeit (wie Kaliajew und der fanatische Stepan, die über die Frage streiten, ob ein Attentat den zufälligen Tod unschuldiger Kinder in Kauf nehmen darf), sondern verwandelt sich selbst in eine Bombe, bloßes Mittel zum Zweck, darin identisch mit seinen Opfern, unter denen kein Tyrann, kein Großfürst, weilt. Ab diesem Augenblick werden keine Gleichungen mehr gelöst, kein symbolischer Tausch vollzogen; das Wechselspiel der paranoischen Verwechslungen zwischen Mördern und Ermordeten, Verfolgern und Verfolgten, kann eskalieren. Und Kaliajews Frage erhält eine völlig neue Bedeutung: »Kann man von Terrorismus sprechen, ohne daran teilzunehmen?«11
3. »Krieg im eigenen Land«
Nach dem 11. September 2001 kursierte die Schlagzeile vom »Krieg im eigenen Land«: America under attack. Die stereotyp wiederholte Formel ist zunächst einmal verwunderlich, insofern ja jeder Krieg darauf abzielt, das »eigene Land« des Feindes zu treffen oder zu erreichen. Wer Krieg führt, involviert gleichsam wie von selbst das »eigene Land« in seine militärischen Aktivitäten. Nun sind die Vereinigten Staaten offenbar daran gewöhnt, ihre Kriege auf fremdem Territorium, lieber im Luftraum als am Boden – sei es in Europa, Korea, Vietnam oder im Irak – zu führen; und sie sind daran gewöhnt, diese Kriege moralisch rechtfertigen zu können: als Kriege gegen Diktaturen, evil empires, Schurkenstaaten. Anders gesagt: Sie sind daran gewöhnt, die kriegerische Doppelmassenbildung aus der Perspektive starker Antagonismen und Polarisierungen (der Territorien und der Moral) wahrzunehmen und zu kommentieren. Eben darum kommt der Rede vom »Krieg im eigenen Land« eine herausragende Bedeutung zu: Sie erscheint als Symptom, das unsere Aufmerksamkeit erzwingen sollte, und zwar in Gestalt der Frage, wie und warum glaubhaft ist, daß Kriege nicht als »Kriege im eigenen Land« geführt werden können oder sollen.
Hinter der Formel vom »Krieg im eigenen Land« verbirgt sich indes – fast unkenntlich – das Wissen, daß die Vereinigten Staaten einen solchen Krieg bereits erlebt haben – nämlich den Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865. In diesem außerordentlich blutigen Krieg, der die Konstitution der Nation selbst betraf, starben erheblich mehr Amerikaner (geschätzt: 623.000) als im Ersten Weltkrieg (rund 100.000), im Zweiten Weltkrieg (300.000), im Vietnam-Krieg (56.000) und allen weiteren US-Kriegen zusammengenommen. Der amerikanische Sezessionskrieg war obendrein mutmaßlich der erste »totale Krieg« der Weltgeschichte, in dem die Unterschiede zwischen Militär und Zivilbevölkerung strategisch und nachhaltig verwischt wurden. Anders gesagt: jenseits späterer Moralisierungen (etwa als Krieg gegen die Sklavenhaltung) ereignete sich der Civil War als latent paranoischer Konflikt zwischen mimetischen Doppelmassen. Bis heute verknüpft sich mit der Erinnerung an diesen »Krieg im eigenen Land« die Angst vor dem Zerfall der Nation, was nicht nur anläßlich von Wahlkämpfen in den USA implizit häufig zitiert, sondern auch in zahlreichen Memorialveranstaltungen vergegenwärtigt wird, bei denen etwa der Verlauf bestimmter Schlachten in historischen Uniformen, mit historischen Waffen, Zelten und Versorgungseinrichtungen regelrecht »nachgespielt« wird. Der »Krieg im eigenen Land« ist latent immer noch der Bürgerkrieg, der das konstitutive Prinzip der Union, der »Vereinigung«, zugunsten partikularer Interessen – zugleich aber im Namen der Menschenrechte und einer humanitären Ethik – aufzukündigen droht.
Das Prinzip der Vereinigung basiert auf einer mimetischen Dynamik, kontrolliert durch Befehle (wie sie Canetti in Masse und Macht so eindringlich analysiert hat.12 Mimesis und Befehl konstituieren das Imperium. Als ein solches Imperium, als empire, werden die Vereinigten Staaten neuerdings übereinstimmend – etwa von Michael Hardt und Antonio Negri, aber auch von Mark Hertsgaard13 – beschrieben. Imperien zeichnen sich durch einen gewissen Expansionsdrang aus, der gleichsam die mimetische Eskalation der befohlenen Vereinigung verkörpert; die Grenzen eines Imperiums stehen niemals endgültig fest. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA ihre Einflußsphäre und national relevante Peripherie permanent erweitert – von Israel bis in den Fernen Osten – und mit dem ökonomischen Globalisierungsprozeß verschmolzen. Die politische Rhetorik mußte daher konsequent stets einen »Krieg im eigenen Land« behaupten, um die militärischen Interventionen in anderen Ländern – gegen jede isolationistische Versuchung – zu legitimieren. Der »Krieg im eigenen Land« ist also auch der Bürgerkrieg im Empire, ein High-Tech-Partisanenkrieg, der das Prinzip weltweiter »Vereinigung« – der Globalisierung – in Frage stellt. 14 Die mimetisch-paranoide Implikation der Vereinigung artikulieren übrigens auch die ubiquitären Verschwörungstheorien mit dem wiederholten Hinweis,, daß Osama Bin Laden und Saddam Hussein ehemalige Bündnispartner der USA waren (oder daß die visuelle Dramaturgie der Anschläge vom 11. September den populärsten Blockbuster-Filmen Hollywoods gefolgt sei.
Wer weiß, vielleicht glauben wir diesen Verschwörungstheorien weniger als die US-amerikanische Regierung selbst. Seit Beschließung des Patriot Act von 2001 hat sie den »Krieg im eigenen Land«, einen »Bürgerkrieg von oben«, in Gestalt bisher nicht gekannter Beschränkungen von Freiheitsrechten, in einer informationspolitischen Gleichschaltung der Presse- und TV-Berichterstattung (wie insbesondere Hertsgaard beklagt), aber auch in zahlreichen Überwachungsmaßnahmen – von öffentlichen Bibliotheken bis zum Internet – längst begonnen. »Krieg im eigenen Land«? Scipio weinte nach der Vernichtung Karthagos; er meinte, das Schicksal Roms vorausgesehen zu haben. 15 Im Sieg über den singulären antagonistischen Feind, von Cato endlos beschworen, erkannte er bereits die Katastrophe künftig wiederholter, diffuser Konfrontationen an den Grenzen des Reichs, die bevorstehende Bildung mimetischer Doppelmassen zwischen dem Imperium und den Barbaren, den Germanen oder Hunnen im Norden, den Syrern oder Juden im Süden und Osten. Von dieser Einsicht sind die USA (auch und gerade nach der Wahl 2004) noch weit entfernt. Nicht umsonst jedoch erhält der Erfinder der präventiven Kriegsführung – in Steven Spielbergs Film Minority Report von 2002 – eine denkwürdige Auszeichnung: einen goldenen Revolver aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, mit dem er sich anschließend, nach Aufdeckung seiner eigenen Morde und Manipulationen – erschießt. Wenn der Feind überall stehen kann, findet man ihn am schnellsten – im eigenen Kopf.
1 | Elias Canetti: Masse und Macht. München/Wien: Carl Hanser 1993. Seite 71-84.
2 | Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh. Zürich: Benziger 1987. Seite 211-247.
3 | Ebda. Seite 236.
4 | Elias Canetti: Masse und Macht. A. a. O. (Anm. 2). Seite 71.
5 | Ebda. Seite 82.
6 | George L. Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben. Übersetzt von Udo Rennert. Stuttgart: Klett-Cotta 1993. Seite 97. Vgl. auch: Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. München: Bertelsmann 2003.
7 | Michael Walzer: Fünf Fragen zum Terrorismus. In: Erklärte Kriege – Kriegserklärungen. Essays. Übersetzt von Christiana Goldmann. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2003. Seite 158-170; hier: Seite 158 f.
8 | Vgl. Elias Canetti: Nachträge aus Hampstead. A. a. O. (Anm. 1). Seite 205.
9 | Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. A. a. O. (Anm. 3). Seite 236 ff.
10 | Vgl. die Titelgeschichte Panoptikum des Absurden. In: Der Spiegel Nr. 37 vom 8. September 2003. Seite 58-76 oder: Joseph Croitoru: Al Qaidas Antwort. Der Westen arbeitet mit: Zur Inszenierung des Verschwörerischen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 214 vom 15. September 2003. Seite 35.
11 | Albert Camus: Die Gerechten. In: Dramen. Übersetzt von Guido G. Meister. Hamburg: Rowohlt 1959. Seite 187-234; hier: Seite 196.
12 | Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht. A. a. O. (Anm. 2). Seite 357-393.
13 | Vgl. Michael Hardt / Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Übersetzt von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Frankfurt/Main/New York: Campus 2002. Vgl. auch Mark Hertsgaard: Im Schatten des Sternenbanners. Amerika und der Rest der Welt. Übersetzt von Friedrich Griese. München/Wien: Carl Hanser 2003.
14 | Vgl. Philipp Sarasin: »Anthrax«. Bioterror als Phantasma. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004.
15 | Vgl. Jean-Christophe Rufin: Das Reich und die neuen Barbaren. Übersetzt von Joachim Meinert. Berlin: Verlag Volk und Welt 1993. Seite 19. – Rufin beruft sich in seinen Studien übrigens ebenfalls auf Canettis Begriff der »Doppelmasse«. Vgl. etwa Seite 18 oder 20.